Gastbeitrag
Dompropst Berthold Bonekamp, Erzbistum Hamburg
Schwestern und Brüder,
in den letzten Wochen habe ich mich mit dem großen Theologen Karl Rahner befasst und in seinem Buch „Das große Kirchenjahr“ eine gute geistliche Begleitung in der Advents- und Weihnachtszeit gefunden. Karl Rahner ist ein großartiger Theologe in seinen Gedanken und Worten, aber auch einer, der mühselig zu verstehen und zu erarbeiten ist.
In seinen Gedanken zu Weihnachten fiel mir seine Meditation zur „Geweihten Nacht“ besonders auf. Darin stellt er die Frage, warum nennen wir das Fest, das wir heute begehen, Weih-nacht?
Er schreibt: „Wir wissen ja historisch gesehen nicht, ob Jesus in der Nacht geboren wurde. Der Bericht der Hirten, die in der Nacht die Herde bewachte und die himmlische Botschaft von der Geburt des Heilandes erfahren haben, ist dafür noch kein Beweis genug.
Aber in der ganzen Geschichte der Christenheit, ist diese selige und rettende Geburt in der Nacht geschehen und die deutsche Sprache hat daraus die Heilige Nacht – Weih-nachten gemacht.“
Die Nacht, die Dunkelheit und Finsternis, hat für uns Menschen immer etwas Zweideutiges:
Zum einen ist die Nacht angstbesessen, wenn wir in der Dunkelheit uns zurechtfinden sollen. Bei Kindern ist das besonders zu spüren, wenn sie in die Nacht, in die Dunkelheit gehen sollen. Sie fürchten sich und sind unsicher. Halten die Erwachsenen fest an den Händen und suchen den Schutz.
Die Ungewissheit, dass wir den rechten Weg gehen, nicht fallen oder verletzt werden, umfängt auch uns Erwachsenen. Wir sind unsicher. Rahner: „Die Nacht kann das Unheimliche, das Finstere sein, die Zeit, da niemand wirken kann… Sie ist Zeit des Wesenlosen, des Unsichtbaren und Gefahrvollen, des Unübersichtlichen.“
Zum anderen ist die Nacht die Zeit der Stille, des Ausruhen, des Kraftschöpfens. Es ist die Zeit der Träume und des Verarbeitens der Alltäglichkeiten unseres Lebens in Gut und Böse.
Es ist eine Zeit – so Rahner – des Gebets, in der Jesus nächtelang mit dem Vater spricht. Für der Psalmisten ist der Tag wie die Nacht ein Geschenk Gottes: (Ps. 19,3: Ein Tag sagt es dem anderen; eine Nacht tut es der anderen kund. Oder: Ps. 74, 16: Dein ist der Tag, dein auch die Nacht, hingestellt hast du Sonne und Mond).
Und dennoch bleibt die Nacht zwiespältig für uns.
In unserem Leben sind wir oft Gefangene unseres Alltags, unserer Erwartungen, Ängste und Zwänge. Wir erleben die Hektik des Alltags, gerade in diesen Zeiten des Advents und der Vorbereitung auf Weihnachten. Wir werden überflutet von Nachrichten, von Adventsfeiern, von Essen und Trinken, von flüchtigen und kurzen Begegnungen und Gesprächen, von Shows und Veranstaltungen. Die Schnelligkeit unseres Lebens zu dieser Zeit macht uns schwindelig und lässt kaum Zeit, zu sich selbst zu kommen.
Die Nacht lässt uns dabei kaum zur Ruhe kommen und uns auch immer wieder die Frage stellen, welchen Weg wir gehen sollen. Wie kann ich zu mir und zur Ruhe kommen?
Die manchmal so spürbaren Ungewissheiten des Hin und Her, spiegelt sich somit im Wechsel der täglichen und nächtlichen Zeiten.
Und dennoch ist die Nacht immer auch der Anfang eines Neubeginns.
In uns ist eine Sehnsucht nach mehr, nach dem eigentlichen Ziel des Lebens, das uns das Alltägliche und Ungewisse überwinden lässt und uns in eine sichere und gute Zukunft führen möchte; über den Alltag hinaus in die Tiefe unseres eigenen Seins zu gelangen. Da wo wir eigentlich zuhause sind. Also mehr als dieses Leben auf Erden ist und damit auf unser endgültiges und unbegrenztes Dasein zeigt. Aber die Gewissheit dieser Sehnsucht ist, wie Tag und Nacht, für uns nicht sicher erkennbar und bleibt ungewiss und wage. Das macht uns unsicher und lässt uns oft auch in die Alltäglichkeiten des Lebens flüchten.
In unserer Sehnsucht sind wir wie die Nacht, ungewiss und doch erwartend, ängstlich und doch hoffend. Das Spüren der Ungewissheit unseres Lebens ist wie die Nacht: zwiespältig, aber auch verheißungsvoll! Wie kann das zur Heiligen Nacht werden?
Stellen Sie sich vor, in dieser Nacht „gibt es einen Augenblick der Geschichte, der Geschichte eines jeden Menschen und der gesamten Menschheit voll der unübersehbaren Möglichkeiten und Verheißungen, einen Anfang, der alles in seinem geheimnisvollen Schoß birgt, und wenn dieser Anfang unsagbaren unendlichen Beginns sogar seine Verwirklichung in sich trägt, dann müssten wir diesen Augenblick die Heilige Nacht nennen“, so schreibt Rahner.
Genau das ist die Nacht, die wir heute feiern: Unser Glaube sagt uns, in dieser Nacht hat es begonnen. „Da ist Gott selbst leise aus dem schrecklichen Glanz, in dem er als Gott und der Herr wohnt, herausgetreten und zu uns gekommen; still ist er in die Hütte unseres irdischen Daseins eingetreten, erfunden wie ein Mensch; er hat angefangen, wo wir anfangen, ganz arm, ganz gefährdet, ganz kindlich und sanft, ganz wehrlos. Er, der die unendliche, ferne Zukunft ist, die wir von uns aus nie einholen, wie sie in immer weiteren Fernen zurückzuweichen scheint, wenn wir ihr entgegeneilen auf den harten Straßen unseres Lebens, er ist selbst uns entgegengekommen, bei uns angekommen, da wir sonst nicht zu ihm fänden.“
Und weiter schreibt Rahner: „Gott ist nahe; sein ewiges Wort des Erbarmens ist da, wo wir sind; es pilgert unsere Wege, es kostet unsere Freude und unser Elend, es lebt unser Leben und stirbt unsern Tod… Es hat unsern Anfang zu seinem gemacht, unsern Schicksalsweg betreten, uns ihn so offen gemacht in die unendliche Weiten Gottes.“
Diesen Anfang der heutigen Nacht müssen wir als die „heilige Nacht“, die Weihnacht feiern. Etwa Unglaubliches ist geschehen.
Wie kann oder soll die Feier dieses großartigen Ereignisses durch uns gefeiert werden? In den Familien geschieht dies durch das gemeinsame Treffen, ein festliches Essen und die gegenseitigen Geschenke. Darin wird Freude, Dankbarkeit und Liebe sicht- und spürbar über eine wunderbare und erfüllte Zukunft eines jeden von uns. Wir fürchten uns nicht mehr unseres Alltags und entfliehen ihm auch nicht, aber wir haben eine je einzelne und gemeinsame Zukunft in der Gegenwart Gottes, die uns in diesem Kind festzugesagt ist. Gott ist mit uns! Deshalb müssen wir diese heilige Nacht als die Weihnacht feiern.
Und Karl Rahner verweist noch auf eine weitere Möglichkeit, dieses Mysterium der Heiligen Nacht zu feiern: In der Stille und der Öffnung unseres Herzens.
Das wird in diesen Tagen – so werden Sie mir sagen – nicht so recht einfach werden, wenn die Familien zusammenkommen und es unruhig wird, aber auch für jene schwer sein wird, die einsam und allein sind und die Stille der Heiligen Nacht nicht aushalten können.
Ich wünsche Ihnen über die Feiertage eine Stille, die die Liebe Gottes, die er den Menschen durch dieses Kind geschenkt hat, im Herzen zu spüren und die in der Gemeinschaft der Familie und Freunde heute besonders aufleuchtet.
Eine Dankbarkeit zu empfinden, die losgelöst ist vom Geben und Nehmen, die einfach eine Dankbarkeit über eine Zuwendung ist, die mir geschenkt ist und für die ich nur dankbar sein kann.
Einen Frieden zu erleben, den die Welt so dringend braucht und an dem wir Menschen erheblichen Anteil haben. Einen Frieden, den wir auch in diese Welt bringen sollen. Einen Frieden an dem wir Anteil haben.
Ich wünsche Ihnen die Nachhaltigkeit dieser Weihnacht für das ganze kommende Jahr. Eine Nachhaltigkeit, die auch maßgebliche an uns Menschen hängt und durch Gott wie ein Licht in diese Welt gegeben ist. In dieser Nachhaltigkeit können wir andere Menschen teilhaben lassen, für die die Einsamkeit, Krankheit und Not keine Weihnacht bedeutet.
Gönnen Sie sich Zeit und Augenblicke in dieser Nacht und an diesen Tagen, die Stille, um die Fülle der Weihnacht zu spüren. Machen Sie den Weihnachtsspaziergang allein oder in Stille. Öffnen Sie ihr Herz, dort, wo Gott schon längst ist und mit Ihnen das Lied der stillen und Heiligen Nacht singen möchte. Schauen Sie auf ihre Dankbarkeit, Liebe und Frieden und welchen Anteil dieses Kind in der Krippe, der Sohn Gottes ist, für Sie bedeutet. Nehmen sie andere Menschen mit in diese Verheißung: Gott ist mit uns!
Frohe und gesegnete Weinachten! Amen.
Bild von Samuele Schirò auf Pixabay