Was mich leben lässt

Diktatur scheinbarer Toleranz

Im Interviewband „Gott und die Welt“ wird der spätere Papst Benedikt XVI., damals noch Joseph Kardinal Ratzinger und ‚Chef‘ der Glaubenskongregation in Rom, gefragt nach neuen Gefahren für den Glauben. Der ‚oberste Glaubenshüter‘, wie Ratzinger seinerzeit teils respektvoll, teils auch abschätzig beurteilt wurde, gab auf diese Frage eine Antwort, die auch Jahrzehnte später an Bedeutung nichts verloren hat: 

„Nicht, dass man die Christen offen verfolgte, das wäre viel zu altmodisch und zu unpassend. Nein, man ist ganz tolerant, man ist natürlich für alles offen. Aber es gibt dann um so entschiedener Dinge, die ausgeschlossen und die dann als fundamentalistisch dekretiert werden, auch dort, wo es sich um wirklichen Glauben handeln kann. Und ich denke, hier kann es durchaus zu einer Situation kommen, in der sich Widerstand bilden muss, und zwar gegenüber einer Diktatur scheinbarer Toleranz, die den Anstoß des Glaubens dadurch ausschaltet, dass sie ihn als intolerant erklärt. Hier kommt dann wirklich die Intoleranz der >>Toleranten<< zum Vorschein. 

Der Glaube sucht nicht den Konflikt, er sucht den Raum der Freiheit und des gegenseitigen Sichertragens. Aber er kann sich nicht durch standardisierte und als der Moderne angemessene Etiketten formulieren lassen. Der Glaube ist in einer höheren Treue Gott gegenüber verpflichtet und muss dann auch mit Situationen einer ganz neuen Art von Konflikten rechnen.“ 

(Joseph Kardinal Ratzinger „Gott und die Welt – Glauben und Leben in unserer Zeit“ – Ein Gespräch mit Peter Seewald, DVA 2000, S. 390)

Das Problem ist – der Mensch

„Der Glaube… muss dann auch mit Situationen einer ganz neuen Art von Konflikten rechnen.“ Mir geht dieser Satz nicht aus dem Kopf. Welche neue Art von Konflikten meint Ratzinger? Konnte er seinerzeit schon ahnen, welche Auswirkungen die Digitalisierung hat, welche Möglichkeiten durch KI dem Menschen in die Hand gegeben sind? Selbst deren Schöpfer warnen vor unabsehbaren Folgen. Dabei ist die moderne Kommunikationsgesellschaft eine menschliche Schöpfung! Wir sollten nicht das verteufeln und schlechtreden, von dem wir tagtäglich einen großen Nutzen beziehen. Das Problem ist weder KI, noch sind es die modernen Kommunikationsmittel. Sie sind als ‚Sachmittel‘ wertneutral. Das Problem ist – der Mensch! 

Wenn heute allenthalben eine diffuse Verunsicherung eingesetzt hat, verbunden mit Zukunftsängsten, mit der Frage, was denn noch gilt angesichts der überbordenden Fülle an Informationen, wobei eine Meinung fast immer eine Gegenmeinung nach sich zieht und beide – mit guten Gründen – für sich Glaubwürdigkeit einfordern – wer weiß dann noch Rat, wenn er um ein Gespräch hierüber gebeten wird? Wer kann da noch sagen, er weiß, was Wahrheit ist? Wer kann sagen, was richtig und falsch, was gut und was böse ist. Wer traut sich, wer wagt es heute noch, überhaupt von Wahrheit zu reden, von Sinn, wenn alles nur relativ zu sein scheint und schon morgen überholt ist in seinem Wahrheitsgehalt. Was gestern galt, gilt heute schon längst nicht mehr. Und so geht es weiter – in immer größerem Tempo.  Wer weiß noch um eine Lebensperspektive angesichts von Allmachtsphantasien und Ohnmachtsgefühlen, von abgrundtiefen Ängsten und Verunsicherungen? Wie lebt es sich in einer Welt, in der scheinbar alles möglich und machbar, vor allem alles manipulierbar ist und manipuliert zu sein scheint?

Ist das die neue Art von Konflikten, von denen Ratzinger spricht und denen der Glaube ausgesetzt ist?  Jener Glaube Jesu, von dem dieser sagt, dass ER „der Weg, die Wahrheit und das Leben ist“? Mitunter mag es scheinen, als dass die „Schleifung der Bastionen“ (Buchtitel von Hans Urs von Balthasar) kirchlichen Lebens allenthalben nur Unsicherheit erzeugt, Angst, Ohnmacht. Und dass die Sehnsucht wächst – gerade heute – wieder rasch zu flüchten in „das Haus voll Glorie“, das „weit über alle Land“ (Kirchenlied) leuchtet, das Schutz und Sicherheit bietet auf Basis irritationsfester Identität. Doch das ist mitnichten so, denn schon vor Jahrzehnten lautete der ‚Befund‘: 

„Die Christen erleben, wie keine Generation zuvor, wie zweideutig aller irdische Fortschritt ist, wie leicht und beinahe automatisch die Werkzeuge, die dem Menschen die Herrschaft über Zeit und Raum einhändigen, ihn selbst unversehens in Ketten schlagen und entmenschen. Und je mehr materielle Macht ihm zufällt, desto mehr ballen sich die Machtblöcke – notwendig gegeneinander. Denn materielle Macht treibt von selbst dem widergöttlichen Geist und gesteigerten Willen zur Macht zu; es wäre ein unausdenkbares Paradox, wenn die Menschheit die ihr zugespielte Machtfülle in der Gesinnung dessen zu verwalten und zu verteilen verstünde, der nicht kam, um zu herrschen, sondern um zu dienen.“ 

(Balthasar, Kleine Fibel für verunsicherte Laien“, Einsiedeln – Trier 1989, S. 99)

Dieses „unausdenkbare Paradox“ kann man deutlich erkennen, denn:  

„Seit Jesus Christus mit dem Anspruch auftrat, als Sohn Gottes die unmittelbare Darstellung seines göttlichen Vaters zu sein und den Geist Gottes zu besitzen und ihn sogar zu verleihen: seither kann der Mensch sich anmaßen, selber das Absolute, das Autonome sein zu wollen, das sich selber Gesetz ist…dies sehen wir in vielerlei Formen der Neuzeit heraufziehen, pathetisch-tyrannisch oder ganz alltäglich. Als habe Jesus Christus den Menschen in den Kopf gesetzt, sie seien im Grunde göttlich und könnten in einen leergewordenen Himmel auffahren und den freigewordenen Platz besetzen (Ernst Bloch). Hier wird nur eins vergessen: dass Christus in der Gestalt der >>Erniedrigung<< erschien…Auf diese beiden Weisen der Vergöttlichung des Menschen wird die Weltgeschichte…zulaufen.“ 

(Hans Urs von Balthasar „Das Christentum und die Weltreligionen“ – Ein Durchblick, Freiburg 1989, S. 16)

Der allererste Sündenfall?

Christus in der Gestalt der >>Erniedrigung<< und der Anspruch des ‚autonomen Menschen“, „selber das Absolute, das Autonome“ zu sein – das scheint d i e Herausforderung für den Glauben und das Leben, die Liebe und die Hoffnung heute gleichermaßen zu sein. Begegnet uns hier nicht der allererste ‚Sündenfall‘? Der Wunsch, wie Gott sein zu wollen, ja, Gott selbst sein zu wollen – er steht auf den ersten Seiten des Lebensbuches Bibel. Und er ist alles andere zunächst als Hochmut, Stolz oder Arroganz. In allererster Linie ist er das Ergebnis von Angst. Angst, nicht zu genügen, nicht ‚cool‘ genug zu sein, nicht anerkannt, nicht geliebt. Um diese Angst nicht hochkommen zu lassen, sie zu verdrängen, muss man sich vor anderen groß aufführen. Sich aufblasen wie ein Frosch, bis er platzt. Um dieser Gefahr zu entgehen, ist es doch besser, gleich selbst Gott zu sein. 

Wie sich der eine Teil dieser Alternative aufführt, kann man leicht erkennen, sowohl am Tonfall als auch an der Lautstärke, an der Unfähigkeit, dem anderen zu zuhören und an der Empathielosigkeit, sich in die Situation des anderen hineinzudenken und hineinzufühlen. Stattdessen der prahlerische, laute, propagandistische Zug, zu meinen und vorzugeben, man wisse doch längst, „wie alles gespielt wird“, man habe doch längst „alles schon durchschaut“.  

„Aus dieser schrecklichen Tendenz, einzelne Wirklichkeiten und Werte absolut zu setzen, zu vergöttlichen, zu vergötzen…erwachsen dann Fanatismus der Weltanschauungen, die entsetzliche Intoleranz der gesellschaftlichen Systeme, die tobende Lautstärke der Propaganda, die arrogante und entsetzlich dumme Schwarz-Weiß-Malerei in der Politik…“ 

(Aus Karl Rahner „Schriften zur Theologie“, XIV; Zürich-Einsiedeln-Köln 1980 – Die in Klammern gesetzten Zahlen sind die Seitenzahlen in diesem Band; hier 420 – Der Aufsatz Rahners trägt übrigens den bezeichnenden Titel: „Die unverbrauchbare Transzendenz Gottes und unsere Sorge um die Zukunft“)

Welche konkreten Auswirkungen dieser „Fanatismus der Weltanschauungen“ hat, ist zudem ebenfalls leicht erkennbar, denn 

„Skeptischer Relativismus…und ideologischer Fanatismus… sind die beiden falschen Konsequenzen, die man sehr leicht aus der unaufhebbaren Differenz zwischen der Problematik der Reflexion und der Absolutheit der Entscheidung, zwischen Theorie und Praxis zieht.“ 

(„Mut zur Tugend – Von der Fähigkeit, menschlicher zu leben“, S. 16)

Wie geht man mit all dem um? Die Analyse ist immer nur eine Seite der Medaille. Jene Seite, über die man sich sogar rascher einigen kann als über die andere, die nach dem angemessenen Umgang fragt angesichts dieser Ergebnisse. Und viele bleiben bei der Analyse stehen. Ja, sie werden durch moderne ‚Filterblasen‘ der Informationen in ihren Urteilen – oder sollte man sagen Vorurteilen? – bestärkt. „Man weiß Bescheid“, „Wir wissen Bescheid“ – man schafft durch dieses Wissen – das unumstößlich scheint – eine ‚Gemeinschaft der Wissenden‘. Vielleicht auch der ‚vermeintlich Eingeweihten‘.  Hier fühlt man sich wohl, hier ist man wer, hier ist man ‚sicher‘, wird anerkannt, hier gehört man dazu. 

Dass dies alles nur virtueller Schein ist, der erkauft ist durch das Ausblenden vieler anderer Aspekte und Perspektiven, das wird nicht nur nicht gesehen. Das s o l l nicht gesehen und erkannt werden, denn dann fällt ja auf, um was es sich in Wirklichkeit handelt: Um eine subtile Form von Manipulation, um Machtausübung über das Denken – letztlich auch über das Handeln. Darum ist eine Dezentralisierung von Macht so unerlässlich, darum sind Austauschprogramme und transparente Aushandlungsprozesse zwingend notwendig. Nichts kann optimal umgesetzt werden, aber das Bemühen um Transparenz, um Fairness, um Dezentralisierung sind notwendige Schritte im wörtlichen Sinne, d. h. sie sind wichtig, um die Not zu wenden. Darum dürfen sie auch nicht nicht unterlassen werden. 

„Man darf nichts einzelnes absolut setzen, auch sich selber nicht; man soll alles wichtig nehmen und doch nichts so ganz wichtig nehmen; man soll nicht meinen, alles zu wissen und alles beherrschen zu können; man muss sich loslassen können ohne vorausgehend nachgeprüfte Garantie, dass man ankommt…Wenn man dies tut, immer aufs Neue versucht…dann liebt man Gott, dann erst versteht man, was mit diesem Wort überhaupt gemeint ist, dann fallen die Götzenbilder am Weg unseres Lebens, auch die Götzen, zu denen wir legitime Zukunftsplanung und nur zu verständliche Zukunftsangst gemacht haben.“ (421)

Das erfordert vor allem eines, nämlich „Mut zur Tugend“ 1 . Doch was ist das genau, dieser „Mut zur Tugend“? Hier kommt Karl Rahner die große Weisheit ignatianischer Spiritualität zu Hilfe. Sie kann auch – und gerade heute – hilfreich sein bei der Suche nach Orientierung, nach Sinn und Ziel. Rahner gibt zur Vermeidung von Extremen bzw. zum Umgang mit ihnen, bei denen einerseits kein Konsens mehr angestrebt werden kann, weil ein Diktat keine Abweichung zulässt und andererseits der ängstlichen Reserviertheit, die sich nichts mehr traut und zutraut, weil „man ja nie wissen kann, ob man richtig liegt“, folgende pragmatische‚Hilfestellung‘:  

„Zwischen diesen beiden Extremen gibt es eine Mitte; sie ist eine Tugend und diese Tugend scheint mir namenlos zu sein. Diese Mitte, in der die vorausgehende Reflexion auf die Legitimität einer Entscheidung ernst genommen wird, und in der dennoch von dieser Reflexion nicht mehr verlangt wird, als sie leisten kann, deren Problematik ehrlich eingestanden wird und die trotzdem nicht den Mut einer ruhigen und tapferen Entscheidung verhindert, markiert das richtige Selbstverständnis des Menschen, der weder der Gott einer schlechthinnigen und allseitigen Sicherheit und Klarheit ist, noch das Wesen einer leeren Beliebigkeit, in der alles gleich richtig und gleich falsch ist, der Konturen hat, die zu respektieren sind, obwohl sie den Glanz des Göttlichen und Selbstverständlichen nicht haben…Sie ist die Tugend des tätigen Respekts vor der gegenseitigen Bezogenheit und gleichzeitigen Unzurückführbarkeit von Theorie und Praxis, von Erkenntnis und Freiheit. Sie ist die Tugend der Einheit und Verschiedenheit der beiden Größen, ohne die eine oder die andere zugunsten der andern zu opfern.“ („Mut zur Tugend“ – Von der Fähigkeit, menschlicher zu leben“, S.17 f)

Die einfache Frage

Dabei wird allerding eine Frage immer drängender angesichts der Gräuel, der Schrecken, der Unsicherheiten und Ängste sowie der Machtgelüste von diversen Mächten. Es geht um die einfache Frage: 

„Was trägt die Botschaft Jesu dazu bei, Frieden zu schaffen?…  Das Unheimliche am Krieg ist, dass man die soziale Komponente der Psychologie, die Gruppendynamik, vor Augen sehen muss. Am Ende tun Menschen für ihre Gruppe die ungeheuerlichsten Dinge, aber sie tun sie mit dem Impuls der Kameradschaft, der Treue, der Hingabe, des Pflichtgefühls, mit lauter ethisch hochrangigen Motiven. Diese Missbrauchbarkeit im Ganzen muss deutlich werden, und da ist die Botschaft Jesu sehr wichtig: Es gibt kein Volk, das sich absolut setzen dürfte, keine Gottheit, die Nationalegoismen unterstütze könnte.  Es gibt nicht ‚unseren‘ Gott. Es gibt keinen gruppenspezifischen Gott, es gibt nur einen Gott für alle Menschen. Das ist Religion…Noch einen Schritt weiter…muss man sich um die Wirtschaftsstruktur kümmern. Auch da hat Jesus zum Reichtum und zum Geld kräftigere Worte gefunden als über den Teufel. Wie kann man eine Wirtschaftsform im Sinne Jesu aufbauen, so dass wir nicht die aggressivste Wirtschaftsform in Gestalt des Kapitalismus erhalten müssen im Aberglauben, am Ende Frieden erwarten zu können? 

(Eugen Drewermann „Wir glauben, weil wir lieben“, Patmos, Ostfildern 2010, S. 188 f)

Drewermann kennzeichnet hier sehr klar, was er unter Religion versteht. Es erinnert an Rahners Hinweis, dass der Mensch „weder der Gott einer schlechthinnigen und allseitigen Sicherheit und Klarheit ist noch das Wesen einer leeren Beliebigkeit, in der alles gleich richtig und gleich falsch ist, der Konturen hat, die zu respektieren sind, obwohl sie den Glanz des Göttlichen und Selbstverständlichen nicht haben“. Drewermann kommt am Ende sorgfältiger und ausgedehnter Analysen zu einem Schluss, der die Bedeutung des Glaubens, ja vor allem auch die Bedeutung des Mannes aus Nazareth zum Leuchten zu bringen vermag: 

„Wir sind in diesem Buch ausgezogen, die Form des Todes zu charakterisieren, die in unserer Zeit als eine quasi religiöse >>Ordnung<< der Welt mit der Ökonomisierung aller Lebensverhältnisse in Gestalt des Kapitalismus sich durchgesetzt hat. Jetzt, ans Ende gelangt, erkennen wir als die einzig mögliche Form der Überwindung dieses Systems eines entmenschlichenden Wahns zutiefst die Wahrheit des Christus, wie Paulus sie für sich entdeckt hat, um sie der gesamten Menschheit weiterzugeben: Menschlich ist eine Kultur einzig dann, wenn sie nicht die Machtausdehnung der Starken zur Grundlage des Zusammenlebens erhebt, sondern die Hilfe der Schwachen zum Ausgangspunkt nimmt: Entweder – Oder: Die Wahl ist prinzipiell: Denn es ist deutlich: Wir können mit den Auskünften dieser Welt uns nur immer weiter ins Tödliche vergraben, wir können aber auch die Angst der Endlichkeit und Begrenztheit dieses Daseins ein für allemal hinter uns lassen und an der Seite Jesu selber die Erde betreten als >>Kinder des Lichtes<<, als >>Söhne des Vaters<<, als Vernehmende jenes Wortes, mit dem die Mission des Christus begann:>> (Aber) du bist doch (du bleibst doch) mein Sohn<< (Mk 1, 11)“  

(Eugen Drewermann „Kapital und Christentum“ III, S. 534)

„Die Wahl ist prinzipiell…Wir können mit den Auskünften dieser Welt uns nur immer weiter ins Tödliche vergraben“. Ich weiß nicht, ob das so allgemein gilt und deshalb auch nicht so gesagt werden sollte. Immerhin pries Jesus die Blumen des Feldes, deren Schönheit er rühmte oder die Vögel des Himmels, die zwar nicht säen und ernten, die aber doch vom Vater im Himmel gewollt und geliebt sind. Vielleicht sollte man hier differenzieren: Dort, wo wir eine Kultur des Todes erleben, wo Leben vernichtet wird, wo Angst nicht beruhigt wird, wo Zerstörung an der Tagesordnung ist – dort ist die Wahl wirklich prinzipiell. Wenn wir uns als „Kinder des Lichtes“, als „Söhne und Töchter“ eines liebenden Vaters, einer liebenden Mutter erfahren, können wir „aber auch die Angst der Endlichkeit und Begrenztheit dieses Daseins ein für alle Mal hinter uns lassen“. Wie schön wäre es – ich bin noch einmal bei der ‚Ursünde‘ – Gott sein zu wollen – die Angst endlich hinter sich zu lassen. Weil vor dem eigenen Leben das große Pluszeichen steht: Du bist geliebt. Von Anfang an. Und bis in alle Ewigkeit!  

Kinder des Lichts

Und wenn wir das so formulieren, sind wir beim „Geschenk des Glaubens“ angelangt. Das Leben als „Kinder des Lichtes“ ist keine Überforderung, weil wir es nicht von uns und aus uns heraus allein machen müssen. Es ist uns geschenkt worden. Nur weil wir Beschenkte sind, können wir das Geschenk der Hoffnung und Liebe auch weitergeben. Und umgekehrt: Wir würden dieses Geschenk gar nicht wahr- und annehmen können, wenn wir es nicht weitergeben. Liebe kennt keinen Monopolanspruch. Liebe lebt von, in und durch Liebe. In einem frühen Gebet spricht Karl Rahner diese wunderbare Glaubens – und Gotteserfahrung aus: 

„Dank deiner Barmherzigkeit, du unendlicher Gott, dass ich von dir nicht bloß weiß mit Begriffen und Worten, sondern dich erfahren, erlebt und erlitten habe. Denn die erste und letzte Erfahrung meines Lebens bist du. Ja wirklich du selber, nicht dein Begriff…Du hast mich ergriffen, nicht ich habe dich ‚begriffen‘, du hast mein Sein von seinen letzten Wurzeln und Ursprüngen her umgestaltet, du hast mich deines Seins und Lebens teilhaftig gemacht, dich mir geschenkt…Dich kann ich darum nicht vergessen, weil du ja die innerste Mitte meines Wesens geworden bist.“ 

(Karl Rahner SW 7, S.15 f; ursprünglich aus „Worte ins Schweigen“, Innsbruck/ Leipzig 1938 – dort „Gott der Erkenntnis“, S. 44 f)

Damit ist gleichzeitig auch gesagt, was Gebet eigentlich ist. Es ist weder Selbstsuggestion noch ein Selbstgespräch, das uns einsam zurücklässt. Ganz im Gegenteil, denn

„Gebet ist das freie Vorsichselberkommenlassen des Menschen seiner selbst. Darin vernimmt der Mensch seine Situation und die mit ihr gegebenen Möglichkeiten und Aufgaben. Ihnen stellt sich der Beter als dem göttlichen Willen…Gebet ist somit immer praktisch bezogen, immer handlungsorientiert. Beten und Leben als Fragen nach der göttlichen Führung sind dasselbe: Das Leben soll ein ‚einziges Gebet‘ sein und das Beten ein ‚Stück eines solchen Lebens‘ (WiS 22)“ 

(Ralf Miggelbrink „Ekstatische Gottesliebe im tätigen Weltbezug“, Altenberge 1989, S. 286)

Das führt schlussendlich zur Frage, wo und wie in unserer Welt Gott erfahren wird. Bei aller Unsicherheit, bei aller Angst und bei allen Schwierigkeiten, aber auch in aller Freude, bei allem Schönen und bei allem Frohmachenden. Wo setzt das ‚Gottdenken’ an? Ist es überhaupt glaubwürdig? Und was hat es mit dem „Glauben inmitten der Welt“ (Buchtitel von Karl Rahner) zu tun? 

Auch hier scheint Karl Rahners Spiritualität, sein geistliches Denken und Leben Maßstäbe zu setzen, hinter die die Kirche nicht mehr zurückkann und die gerade heute für die Verkündigung eine große Relevanz besitzen, denn

„Rahners Gottesdenken setzt…bei der Erfahrung Gottes als des zum subjekthaften Handelns für Andere Aufrufenden und Befreienden ein. Der Vollzug dieses gläubigen Subjektseins ist der einzige Ort, an dem theologische Rede sinnvoll ist: Nur in der Ordnung der Gnade, die angenommen und gelebt wird, wo der Mensch sich in Nächsten- und Gottesliebe vollzieht, gibt es ein Verstehen der Wahrheit Gottes jenseits selbstgefälliger, weltbildhafter Sicherheit und jenseits der Verzweiflung.“ 2


  1. „Mut zur Tugend“ – Von der Fähigkeit, menschlicher zu leben“, Herausgegeben von Karl Rahner und Bernhard Welte“, Freiburg-Basel-Wien 1979) ↩︎
  2. Ralf Miggelbrink „Ekstatische Gottesliebe im tätigen Weltbezug“, Altenberge 1989, S. 288 ↩︎
Bild von Timur Kozmenko auf Pixabay

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