Ungewissheit und Wagnis – das Ringen um den Menschen

Der „Philosoph von Münster“

Vor 85 Jahren, am 3. April 1940 starb der ‚Philosoph von Münster‘, Peter Wust (1884-1940) an den Folgen einer Kieferkrebserkrankung. Wust galt seinerzeit als einer der bedeutendsten Vertreter der christlichen Existenzphilosophie. „Ungewissheit und Wagnis“1 – sein Hauptwerk vollendete er im September 1936. In Zeiten bitterster Not in Deutschland, wo alles knapp war, konnte dieses Buch im Jahr 1950 bereits in fünfter Auflage erscheinen. Es war dem Verlag ein großes Anliegen, wie es im Vorwort zur vierten Auflage formuliert wurde,

„als der Naturalismus und Geistpessimismus der jüngsten Vergangenheit einerseits das wahre Menschenbild aufs stärkste entstellt und entwertet, andererseits die Überwindung der schlechthin beispiellosen Ungeborgenheit durch die Mittel des Geistes in gleichem Maße erschwert haben.“ 

dem etwas Wirksames und Hilfreiches entgegenzusetzen. Der Nationalsozialismus mit seinen verheerenden Auswirkungen auf Grund seines völkischen Rassenwahns und seiner diktatorischen Machtausübung, die zu einem beispiellosen Vernichtungskrieg geführt hat, hat alle Gewissheiten erschüttert und zerstört und einen Zivilisationsbruch ungeahnten Ausmaßes herbeigeführt. Insbesondere die industriemäßige Vernichtung Menschen jüdischen Glaubens hat alle grauenvollen Vorstellungen gesprengt, wozu Menschen in der Lage sind. Dieser völkische Rassenwahn hat die Freiheit des Geistes in einem Maße versklavt, wie es sich nur wenige haben vorstellen können. Nur wenige sind in dieser Notzeit auch das Wagnis des tätigen und solidarischen Glaubens eingegangen, weil es für sie oft Konsequenzen für Leib und Leben bedeutete. 

Das alles hatte gravierende Auswirkungen auf das Selbst- und Weltverständnis, auf das Selbstwertgefühl, auf die Achtung anderen Lebens, anderer Völker und Kulturen. Der Verlag sah in dieser Zeit großen geistigen Verfalls und geistiger Verwirrung in Wusts Hauptwerk  einen festen Anker, eine Orientierung und eine Hoffnungsperspektive als Bollwerk gegen die Allmachtsphantasien der ‚Herrenmenschen‘, die in einem grandiosen Fiasko der Zerstörung endete, enden musste und die  oft einer abgrundtiefen Angst und Ohnmacht wich. 

„Es ist das Wagnis des geistigen Selbst, zu dem die Philosophie befähigen muss, das Wagnis des Glaubens, das sie erfordert, weshalb für Wust der Zusammenhang von >>Wissenschaft und Willenschaft<< in der Philosophie unverkennbar ist. Darin liegt aber auch die menschenbildnerische und kulturschöpferische Macht von Wusts Philosophieren. Im Hinblick auf sie, auf den Beitrag zur inneren Bewältigung der brennenden Not des deutschen Geistes in der Gegenwart, hat der Verlag sich entschlossen, unter die ersten Veröffentlichungen, die er nach dem Zusammenbruch von 1945 herausbringen kann, trotz der gebotenen strengsten Sichtung der Projekte eine Neuauflage des Werkes aufzunehmen.“ 2

Allein diese Perspektive reicht aus, um auch heute diesen Impulsen nachzugehen und die Frage zu stellen, ob Wusts Denken uns auch heute noch etwas sagen kann. Denn sind wir nicht heute auch in einer Zeit, in der sich fast sämtliche Gewissheiten und Plausibilitäten aufgelöst haben? 

„Alles nur ideologische Philosophien und unbrauchbar für die Welt…“

In einer Wochenzeitschrift las ich vor längerer Zeit einen Beitrag unter der Überschrift: „Religionen, Kapitalismus oder Konsumismus“. Und darin das erschütternde Fazit: 

„Alles nur ideologische Philosophien und unbrauchbar für die Welt…Ich habe …keine Lösung. Schafft der Mensch etwa sich selbst ab?“  

Es war Fatalismus und Resignation in einem, was sich in diesen wenigen Worte ausdrückte. Der Beitrag endete allerdings mit einer offenen Frage, die mir seitdem – wie man landläufig sagt – ‚nicht mehr aus dem Kopf geht.‘ Und in der Tat, wer ohne die sprichwörtlichen ‚Scheuklappen‘ durch die Welt geht, kann sich des Eindrucks kaum verschließen, auch und vor allem nicht der Berechtigung der letzten Frage angesichts der verheerenden Kriege in der Ukraine, im Sudan, im ‚Heiligen Land‘, in dem derzeit so viel Unheiliges passiert, angesichts von Katastrophen unvorstellbaren Ausmaßes, die Menschen jeden Sinn und jede Perspektive der Hoffnung rauben, angesichts von einer Rücksichtlosigkeit gegenüber Um- und Mitwelt, die sprachlos macht und offenbar den nachfolgenden Generationen einen Planeten zumutet, der vieles von dem, was wir heute noch bestaunen können, nicht mehr haben wird. Das Artensterben ist nur eines der vielen Symptome, wohin ungebremste Ressourcenverschwendung führt. 

Der Autor der Zeitschrift ist mit seinen Fragen nicht allein, denn schon vor ca. 70 Jahren finden sich folgende Sätze in der Autobiografie „Verhüllter Tag“ von Reinhold Schneider (1903-1958)

„Alle Abgründe sind aufgerissen: die des Kosmos, die des Menschen…Ich kann Geschichte nur noch begreifen in Komplexen von Gegensätzen, in dramatischen Konzeptionen.“ 3

Und der Theologe Karl Rahner (1904-1984) fragt: 

„Aber wohin geht die Reise? Fanden wir – als wir zu unserem Dasein erwachten – uns nur in einen Zug versetzt, der fährt und fährt, ohne dass wir wissen, wohin…Ist der Mensch bloß der Punkt in der Welt, an dem diese brennend ihrer Nichtigkeit innewird? Glüht unser Geist auf, nur um schmerzlich zu erkennen, dass er aus dem Dunkel des Nichts auftaucht, um in ihm wieder zu verschwinden, so wie eine Sternschnuppe… Laufen wir, um uns endgültig zu verlaufen?“ 4

Wie damit umgehen? Brechen im 21. Jahrhundert alle Fragen des Existentialismus des frühen 20. Jahrhunderts wieder auf? „Laufen wir, um uns endgültig zu verlaufen?“ Mag sein, doch eines scheint auch deutlicher denn je zu sein: Wo die Frage nach dem Menschen in so existentieller Tiefe gestellt wird, kann vielleicht auch (erst) eine Ahnung aufkommen, was Religion eigentlich meint. 

Reinhold Schneider war in einer Situation, die ihn in seinem ‚Gewissensgehorsam‘ ungeheuer herausforderte. Er gab einerseits eine Antwort, die sich heute ziemlich fremd anfühlt, wenn er schreibt: 

„Auf Erden will ich nichts mehr als verehren.“ 5

Doch ist diese Antwort Schneiders nicht genau das, wonach sich alle Welt sehnt? Viel näher ist uns heute wohl doch jener Reinhold Schneider des „Winter in Wien“, seinem letzten, aufwühlenden Buch. Eines, das Widerspruch erfuhr, wie es Zustimmung hervorrief. Während einige den Tröster in schwerster Zeit nicht mehr wiedererkannten und von einer zerbrochenen Äolsharfe mit Misstönen sprachen (Balthasar), nannten andere es sein „frömmstes Buch“ (Hemmerle). Schneider sprach wie ein alttestamentlicher Prophet, denn was er vor fast 70 Jahren in einem grandiosen, furchteinflößenden Bild festhielt, scheint heute nicht nur Wirklichkeit zu sein. Es scheint, dass die Wirklichkeit schon darüber hinausgekommen ist, über den Schauder einer Welt, die Schneider wie ‚versteinert‘ schien:  

„Unsere Welt ist eine Tankstelle in der Sandwüste…was galt, ist versteinert…Wir haben es also mit der absoluten Leere und den zugehörigen Sentimentalitäten zu tun: Lausbuben in der Wüste. Das Furchtbare ist der Mangel jeglichen Zusammenhangs, jeglicher sozialer Verbindung; der sowjetische Nihilismus stellt in Verpflichtung; der amerikanische ist das Nichts für das Nichts; der Schlag ins Wasser. Sofort trägt solche Feststellung Verdächtigungen ein. Ach, wäre es doch anders! Wenn aber Macht in dieser Leere kulminiert: Was ist dann zu erwarten?  

Und wie steht es um uns? Ich sehe Jugend, die sich nicht die geringste Mühe gibt, etwas beizutragen. Sie glaubt der Welt ein Geschenk zu machen durch ihr Vorhandensein. Dass eine jede Existenz sich keineswegs von selbst versteht, dass sie sich ausweisen muss, ehe sie fordert, wird nicht mehr zur Kenntnis genommen.“ 6

„Dass eine jede Existenz sich keineswegs von selbst versteht“ – wie evident ist diese Tatsache heute im Digitalzeitalter, in einem reinen Pragmatismus, dem oft jede Idee vom Leben abhandengekommen zu sein scheint! Wenn der Mensch in Gefahr ist zu ‚verkommen‘ zu einem reinen Stoffwechsel- und Energieaustauschaggregat (Drewermann), dann stellt sich die Frage mit umso größerer Dringlichkeit nach Wert und Einspruch der Religion, nach deren Kraft, um diesem Ver- und Zerfall etwas entgegenzusetzen. 

„Hier liegt der Grund des Verfalls der Religion: jenes Verfalls, dem nicht beizukommen ist. Unter leidlichen Umständen leben die Menschen ganz gerne; aber in diesem ‚gerne‘ ist keine Kraft. Der Film läuft ab, der Fernsehschirm erlischt. Noch einmal? Oder weiter? Warum? Zeugung ist Lebensrecht, das allen Generationen zufiel. Warum soll es dieser verweigert werden? Weiter machen wir uns keine Gedanken … wollte man also missionieren, so müsste man den Willen zum Diesseits stärken; die Angst taugt zu nichts. Aber wo sind die Argumente?“ 7

Schneider ist weder resigniert noch ist er fatalistisch. Er ist in höchstem Grade Realist, indem er sich der Wirklichkeit ungeschminkt aussetzt. Seinem Realismus verdanken wir diese schonungslose Analyse, die er nicht verschweigen konnte und die in der Frage mündet, die zu beantworten uns heute und morgen aufgetragen ist: „Wo sind die Argumente?“  

 „Wo sind die Argumente?“   – Hat Kant die Antwort gefunden?

Kehren wir noch einmal zu Peter Wust zurück, der in „Ungewissheit und Wagnis“ sich zum menschlichen Geist, zu seiner Freiheit und Ungebundenheit äußert, in der er den menschlichen Adel sieht: 

„Solange man freilich den Geist nur in jener verzerrten Gestalt vor Augen hat, die durch seinen Missbrauch entsteht, kann man sehr leicht…die Behütetheit des Tieres vor der Gefährdung durch den Geist einseitig in den Vordergrund rücken. Sobald man sich aber des wahren Wesens unserer geistigen Natur bewusstwird, dann gewinnt die Behütetheit des Tieres einen neuen Aspekt. Denn sie ist im Grunde nur ein Äquivalent für seine Armut. Und diese Armut des Tieres besteht gerade in seiner Wesensdefinitheit, im Gegensatz zur unendlichen Entgrenztheit der menschlichen Natur.“ 8

Wust setzt sich aus guten Gründen mit Immanuel Kant (1724-1804) auseinander, der in seiner Philosophie mit höchster Stringenz herausarbeitet, dass der Mensch über sich selbst nicht hinauskommt bei und in all seiner ‚theoretischen Vernunft‘. Doch es ist gerade die ‚praktische Vernunft‘, die es ihm nicht gestattet, nur bei sich selbst zu bleiben. Der Mensch ist und bleibt wesentlich ungesichert, ein Wesen der Kontingenz, der Abhängigkeit, des Angewiesenseins.  Wenn jedoch der Mensch durch Gott so überwältigt würde, dass die Evidenz seiner Existenz und seines Wesens uns mit gleißendem Licht blenden würde, was wäre dann?    

„Auf diese Frage hat schon Kant in der ‚Kritik der praktischen Vernunft‘ die sehr nachdenklich stimmenden Antwort gegeben, dass dann unsere ganze menschliche Daseinssituation von Grund auf verwandelt sein würde. In diesem Fall, so argumentiert Kant, ‚würden Gott und Ewigkeit, mit ihrer furchtbaren Majestät uns unablässig vor Augen liegen.‘ Wir wären Gestalten wie im Marionettentheater, wo ‚alle gut gestikulieren, aber in den Figuren doch kein Leben anzutreffen sein würde.‘ Es bliebe also, um mit anderen Worten Kants tiefgründigen Gedanken weiter auszuführen, kein Spielraum für jene Letztentscheidung, die vom Menschen im Interesse seiner Seinsverwesentlichung gefordert ist“ 9

Wust weist nach, dass der ‚Philosoph aus Königsberg‘ jenen Fragen, die wir ‚metaphysisch‘ nennen – also die Fragen nach Grund, Sinn und Ziel – nicht nur einen hohen Stellenwert einräumt. Er insistiert darauf, dass wir ihnen gegenüber immer ‚ausgeliefert‘ sind bzw. bleiben – weil es unserem Mensch-Sein wesentlich ist! 

„Das kommt besonders in den ergreifenden Schlussworten jenes Passus zum Ausdruck, den er diesem so entscheidenden Problem gewidmet hat. ‚Also möchte es auch hier wohl damit seine Richtigkeit haben‘, so lautet die wichtige Stelle ‚was uns das Studium der Natur und des Menschen sonst hinreichend lehrt, dass die unerforschliche Weisheit, durch die wir existieren, nicht minder verehrungswürdig ist, in dem, was sie uns versagte, als in dem, was sie uns zuteilwerden ließ.‘ Es ist übrigens eine Stelle, die allen denjenigen unrecht gibt, die so ohne weiteres diesen größten deutschen Denker immer wieder als Schutzwehr benützen zu dürfen glauben, hinter der sie ungestört ihre Zerstörungsarbeit an der Metaphysik betreiben zu können meinen.“ 10

Wettlauf um die Freiheit

„Wir wären Gestalten wie im Marionettentheater, wo ‚alle gut gestikulieren, aber in den Figuren doch kein Leben anzutreffen sein würde.“ – dieser Gedanke Kants, der die menschliche Freiheit trotz oder wegen ihrer Ungesichertheit, wegen ihrer ‚Kontingenz‘ fast preist, ihm gilt es weiter nachzugehen. Denn werden heute nicht in allen möglichen Facetten Freiheitsentwürfe angeboten, ja angepriesen, die oft nur eines geflissentlich übersehen: Dass der Mensch sich letztlich nicht ‚überspringen‘ kann. Freiheit ist wesentlich nicht zuerst ‚Wahlfreiheit‘. Sie ist das Mit-Sich-Selbst-Konfrontiertsein. Man kann den Menschen von der Freiheit oder zur Freiheit ‚befreien‘. Und zu allen Zeiten und an allen Orten haben Diktatoren jeder Schattierung beansprucht, den Menschen die Freiheit zu bringen, sie in das ‚gelobte Land zu führen‘- oft auch gegen deren eigenen Willen! Das ist keine Aussage über vergangene Zeiten. Die Gegenwart liefert anschauliche und vielfältige Bilder. Und es steht zu befürchten, dass auch die Zukunft – was der Mensch von sich aus erreichen kann – kein ‚Paradies‘ sein wird.  

Hans Urs von Balthasar (1905-1988) hat darum sehr einprägsam, fast formelhaft die Situation beschrieben, in der wir uns heute befinden. Er sprach von einem ‚Wettkampf‘, der darin besteht, zu ergründen, wer denn nun die menschliche Freiheit tiefer versteht. Dies bringt uns zunächst noch einmal zu Reinhold Schneider und Peter Wust zurück, wir erinnern uns: 

„Lausbuben in der Wüste. Das Furchtbare ist der Mangel jeglichen Zusammenhangs“ (Schneider in „Winter in Wien“) 

„Dass die unerforschliche Weisheit, durch die wir existieren, nicht minder verehrungswürdig ist, in dem, was sie uns versagte, als in dem, was sie uns zuteilwerden ließ.“ (Wust über Kant)

Wie sieht er denn aus, dieser ‚Wettlauf‘ um das Verstehen der Freiheit des Menschen? 

„Es findet wie ein Wettlauf statt, wer wirksamer und tiefer diese Freiheit verstehen und durchsetzen kann. Der Atheismus ist ganz mit diesem Thema beschäftigt: Befreiung der Vernunft von den Fesseln des Glaubens (Aufklärung), Befreiung des wirtschaftlich versklavten Menschen zu menschenwürdiger Arbeit (Marx), Befreiung des Individuums von den Ketten seiner unbewältigten Vergangenheit (Freud), Befreiung der gesamten Menschheit vom Alpdruck eines nicht mehr geglaubten als Leiche in der Weltgeschichte mitgeschleppten Begriffes Gott (Nietzsche)“ 11

Nach dieser bestechenden Analyse der Antwortmöglichkeiten auf die zuvor gestellte Frage, mit der Balthasar auf engstem Raum einen Rundgang durch sämtliche modernen Religionskritiken unternimmt, muss jene Antwort kommen, die den Glauben ausweist und gleichzeitig bezeugt. Balthasar konstatiert angesichts der Herausforderung, vor der wir im Hier und Heute alle gemeinsam stehen, vor der sich niemand wegducken kann, weil niemand die ‚Eintrittskarte‘ ins Leben einfach zurückzugeben kann (Dostojewski) jenes Defizit, das allen Antwortversuchen ohne Glauben innewohnt und gar nicht durch den Menschen aufgehoben werden kann:   

„Dort erübrigt sich auch die Angst vor der Provokation durch atheistische Freiheitsentwürfe. Denn sie alle stehen schließlich mit den Christen zusammen in der gleichen Provokation durch die Weltwirklichkeit selbst…und können ihr nur mit einer diese Wirklichkeit transzendierenden Utopie begegnen. Nie wird innerweltlich das Herr – Knecht – Verhältnis völlig aufhebbar sein (Marx), nie wird der Mensch seinen Ursprung völlig einholen und verarbeiten (Freud), nie wird er als ‚Übermensch‘ der vollkommen Schenkende, sich niemandem Verdankende sein (Nietzsche). Nie wird in dieser Welt der Mensch den wahrhaft freien ‚homo absconditus‘ (Bloch) aus sich selber heraus zaubern oder eine aggressionslose Natur (Marcuse) konstruieren können. Der christliche Freiheitsentwurf ist doch größer als alle diese Entwürfe, da er die Freiheit zum Tode nicht nur (mit der Stoa und Buddha) einholt, sondern sie überholt im freien Glauben Christi, dass Gott ihn, den ganzen Menschen – mit seinen Brüdern, mit Geschichte und Kosmos – ins Heile heben wird am ‚dritten Tag‘“ 12

Worum es eigentlich geht

Wie ist das zu verstehen, „dass Gott ihn, den ganzen Menschen – mit seinen Brüdern, mit Geschichte und Kosmos – ins Heile heben wird am ‚dritten Tag‘“? Das ist jene Frage, die schlussendlich bleibt, wenn Glaube und Religion im Ringen um den Menschen heute noch etwas zu sagen haben wollen. Damit soll keineswegs der Eindruck erweckt werden, dass religiöser Glaube ein ‚Auslaufmodell‘ ist, dass seine Antworten vorläufiger Natur sind, die von besseren abgelöst werden. Das Gegenteil scheint der Wirklichkeit mehr zu entsprechen: Ohne den Glauben wird der Mensch nicht nur sein Wesen verfehlen. Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung sind an ein Ethos geknüpft, das der Mensch sich nicht allein geben kann. Er kann es zudem nur einlösen, weil uns ein liebendes, absolutes Gegenüber ‚immer schon‘ angesprochen hat und uns in den Stand versetzt, zu uns und zum ‚Nächsten‘ (der heute oft auch der ‚Fernste‘ ist) zu stehen, ein großes JA zu sagen in jener Kraft der Liebe, die eine Hoffnung ohne Grenzen ermöglicht. Und weil diese Kraft universell ist und durch nichts und niemand gehemmt werden kann, „wirkt Gottes Geist“, wo er will“ und nicht, wo wir wollen, dass er wirkt. Das sei gegen jede Hybris ebenso gesagt wie gegen jede institutionelle Engführung. Religion wird immer auch gemeinschaftlich, institutionell sein. Einfach, weil wir nicht nur individuell existieren, sondern in Gemeinschaft, in vielfältigen sozialen Beziehungen. Aber es gibt auch beides: eine ‚institutionelle Trägheit‘, die zu sehr auf sich selbst blickt und es gibt viele ‚anonyme Verbündete‘ die eine ‚Kooperation der Hoffnung‘ begründen, der „keine Grenze endgültig befohlen werden kann.“ (Karl Rahner) 

Darum lohnt es sich sehr, Karl Rahner (1904-1984) genau zu zuhören, denn es geht Karl Rahner 

„darum dem Menschen von heute einen Weg zu ebnen, der ihm die geschichtlich ergangene Wortoffenbarung intellektuell redlich annehmbar, für sein Leben existentiell vollziehbar macht. Auf eine Kurzformel gebracht: Rahner will keine Verabsolutierung eines philosophischen Systems…, sondern ‚Mystagogie‘, also existentiell wirksame Einführung in die Heilswahrheiten des christlichen Glaubens ‘“ 13

Und:

„Die Gottesfrage als Grundfrage aller Theologie bildete in unseren Überlegungen den Kernpunkt… In der Erfahrung des Selbstvollzugs des Subjekts zeigt sich auch dessen Ohnmacht in Bezug auf sich selbst. Die sich selbst begreifen und ergreifen wollende Subjektivität stößt auf ihre Grenzen und damit auf die ‚Transzendenz als das der endlichen Subjektivität mit innerer Notwendigkeit zugehörende Andere ihrer selbst.‘“ 14

Es sind vielleicht diese etwas sperrigen Worte von der Subjektivität, die auf ihre Grenzen stößt und damit zugleich – wenn wir uns ganz aussprechen dürfen – etwas erfahren von dem, was mit GOTT bezeichnet wird. Wenn nämlich unsere durch und durch endliche Subjektivität in der Stille, in der Hoffnung, in der Sehnsucht – aber auch im Protest, im Schrei, ja, auch im lautlosen Verstummen, etwas davon erfährt – was sie überschreitet, was nicht ihr ‚Eigen‘ ist und was doch mit „innerer Notwendigkeit“ zu ihr gehört. Wir sind mehr, also wir uns oft einzugestehen wagen. Wir gehen immer schon mit mehr um, als wir uns selbst geben (können). Darum ist der religiöse Mensch ein dankbarer Mensch, der seine Gaben als Aufgaben empfängt und betrachtet, um das Für- und Miteinander zu gestalten- in Um- und Mitwelt. Dafür braucht es Glaubenszeugen und ‚Glaubenshelfer‘ (Karl Pfleger) An dem ‚Glaubenshelfer‘ Karl Rahner kann man sich auch im Hier und Heute und sicherlich auch darüber hinaus gewissenhaft orientieren, denn: 

„Rahner hat tatsächlich eine theologische Grundvoraussetzung, die er in seiner Theorie der transzendentalen Offenbarung plausibel zu machen versucht. Sie ist deshalb wohl eher in der Weise wirksam, dass sie den bereits Glaubenden hilft, diesen ihren Glauben besser zu verstehen.“ 15


  1. Peter Wust „Ungewissheit und Wagnis“, München 1937 – 1940 – 2. Auflage; 1950 – 5. Auflage  ↩︎
  2. Peter Wust „Ungewissheit und Wagnis“, München1950, S.12 ↩︎
  3. Reinhold Schneider „Verhüllter Tag“, Köln & Olten 1956, S. 218 f ↩︎
  4. Karl Rahner „Das große Kirchenjahr“, Leipzig, 1990, S. 156 f  ↩︎
  5. Reinhold Schneider „Die Sonette“, Köln und Olten 1954, S. 42 ↩︎
  6. Reinhold Scheider „Winter in Wien“, Freiburg-Basel-Wien 1963, S. 183 f ↩︎
  7. Reinhold Schneider „Winter in Wien“, Freiburg-Basel-Wien 1963, S. 179 ↩︎
  8. Peter Wust „Ungewissheit und Wagnis“, München 1950, S.39 ↩︎
  9. Peter Wust „Ungewissheit und Wagnis“, München 1950, 176 ↩︎
  10. Peter Wust „Ungewissheit und Wagnis“, München 1950, S. 177  ↩︎
  11. Hans Urs von Balthasar „In Gottes Einsatz leben“, Einsiedeln1971, S.14 ↩︎
  12. Hans Urs von Balthasar „In Gottes Einsatz leben“, S. 114 ↩︎
  13. Lambert Gruber „Transzendentalphilosophie und Theologie bei Johann Gottlieb Fichte und Karl Rahner“, Frankfurt a. Main – Bern – Las Vegas 1978, S. 22 ↩︎
  14.  Lambert Gruber „Transzendentalphilosophie und Theologie bei Johann Gottlieb Fichte und Karl Rahner“, Frankfurt a. Main1978, S. 304 ↩︎
  15. Nikolaus Knoepffler „Der Begriff ‚transzendental‘ bei Karl Rahner“, Innsbruck-Wien 1993, S. 203 ↩︎
Saar 1950 290 Peter Wust

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