Rechts? Links? Extrem? Radikal? –  babylonische Sprachverwirrung?

Zum SVZ-Beitrag vom 20. November „Nürnberger Prozess: Nazi Prominenz endet am Strang“

Nie wieder Hass

In dem sehr lesenswerten Beitrag zum Beginn des Nürnberger Kriegsverbrecherprozesses vor 80 Jahren wird der Ministerpräsident Bayerns mit den Worten zitiert: „Erinnerung braucht Orte – und Verantwortung endet nicht mit der Zeit.“  Und ein weiteres Zitat Söders: „Nie wieder darf Hass die Oberhand gewinnen.“ Beiden Aussagen kann ich nur uneingeschränkt zustimmen. Doch es bleibt e i n e Frage, die angesichts der politischen Entwicklung in unserem Land immer drängender zu werden scheint. Es geht um die Frage: Gibt es e i n Kriterium, an dem man zweifelsfrei erkennen kann, wo die Entwicklung beginnt, an deren Ende die Demokratie, die gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse, das föderative Prinzip, die Gewaltenteilung nicht nur unter Druck, sondern an ihr Ende kommen können? Es gibt in der gesellschaftlichen Diskussion hierzulande mittlerweile fast schon so etwas wie die ‚babylonische Sprachverwirrung‘, wenn Begriffe wie ‚extremistisch‘; ‚links‘; ‚rechts‘; ‚radikal‘; ‚fanatisch‘ ohne genauere Begriffsbestimmung genutzt werden, zumeist, um Andersdenke in eine bestimmte Ecke zu stellen. Mit Dialog oder Aushandlung hat solches Verhalten ohnehin nicht viel zu tun. 

Angst als Auslöser der Suche nach Schuldigen

Es scheint in der Tat e i n Kriterium der Klärung zu geben, welches ich dem Sohn von Hans Frank, dem sogenannten „Schlächter von Polen“, Niklas Frank verdanke. Niklas Frank, der sich mit den Gräueln, die sein Vater zu verantworten hat, offensiv auseinandergesetzt hat, der seinen Vater ohne Zögern öffentlich einen „Massenmörder“ nennt, hat am gestrigen Tag, also an dem Tag, an dem vor 80 Jahren der Prozess in Nürnberg auch gegen seinen Vater begann, mit Schülern genau über diese Begriffe nachgedacht. Darüber, was sie unterscheidet und viel mehr noch darüber, was sie eint. Und er sagte den Schülern, ich zitiere aus dem Gedächtnis: „Ich habe Angst davor, dass in unserer Gesellschaft, mit all ihren Chancen und Problemen, mit ihrer Komplexität für die meisten eine Situation der Überforderung eintritt oder schon eingetreten ist. Und wie in solch einer Situation nach e i n e m Mann gerufen wird, der in der Lage ist, mit einfachen Methoden das Leben zu steuern, die (vermeintliche) Last den Menschen abzunehmen, das Komplexe auf einfache Prinzipien zurückzuführen.“ So in etwa die Aussage von Niklas Frank, wie ich sie verstanden habe. 

Ich glaube, dass hier etwas zu finden ist, was alle Strömungen eint, die mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung hadern, sie verdächtigen oder gar gänzlich ablehnen. Es ist die Überforderung durch viele Aushandlungsprozesse auf unterschiedlichen Ebenen, verursacht durch verschiedene Auslöser, wie die Digitalisierung, Künstliche Intelligenz oder das Nebeneinander von Wissenschaft und Fake News. Sie beschleunigen den Kontrollverlust in einer immer komplizierter werdenden Gesellschaft und erzeugen eine zunehmende Angst, Ratlosigkeit und Orientierungslosigkeit.  Denn Menschen möchten wissen, was gilt, woran man sich halten kann und halten soll. Diese Sehnsucht nach dem Einfachen scheint alle radikalen Strömungen zu einen. Und wir sollten bei allen gesellschaftlichen Debatten deshalb besonders auf jene Beiträge achten, die vorgeben, mit ‚einfachen Rezepten‘ ‚alles in den Griff zu bekommen‘. Wir sollten größte Vorsicht walten lassen bei all jenen, die meinen, sie wüssten, dass ‚hinter allem ein einfaches Muster steckt‘ – ob sie nun ‚Eliten‘ heißen oder ‚Klassenfeinde‘ oder sonst wie, jene also, die für all das, was als schwierig empfunden und erlebt wird, verantwortlich, mehr noch: ‚schuldig daran‘ sind. Schnell geht es dann in die Richtung weiter, dass ja eh‘ alles bewusst gesteuert wird, dass unsere Misere bewusst von ‚denen‘ gewollt ist. Wohin das führt, braucht keinerlei Erläuterung mehr außer dem Hinweis auf das denkwürdige Datum, das Nürnberg 1945 mit heute verbindet. 

Mut zur Tugend

Eine zweite Frage, die sich anschließend stellt, ist die, ob es aus dieser Situation einen Ausweg gibt. Einen, der auch möglich ist, der nicht zusätzlich eine weitere Überforderung mit sich bringt. Mir scheint, dass der Theologe Karl Rahner (1904-1984) die Situation, in der wir uns befinden, seinerzeit schon sehr genau erfasst hat und uns einen Weg anbietet, der zumindest bedenkenswert erscheint. Rahner schreibt, dass es eine „Mitte“ geben muss, eine „Mitte“, 

„in der die vorausgehende Reflexion auf die Legitimität einer Entscheidung ernst genommen wird, und in der dennoch von dieser Reflexion nicht mehr verlangt wird, als sie leisten kann, deren Problematik ehrlich eingestanden wird und die trotzdem nicht den Mut einer ruhigen und tapferen Entscheidung verhindert.“ 

Rahner meint, dass damit 

„das richtige Selbstverständnis des Menschen, der weder der Gott einer schlechthinnigen und allseitigen Sicherheit und Klarheit ist noch das Wesen einer leeren Beliebigkeit, in der alles gleich richtig und gleich falsch ist.“ 

beschrieben ist.  Es geht also vor allem auch um das richtige Selbstverständnis des Menschen. Ist er der „Gott einer schlechthinnigen und allseitigen Sicherheit und Klarheit?“ Wohl kaum. Oder ist er jenes Wesen der Beliebigkeit, für das alles gleich ist, für das es kein oben und unten, kein richtig und falsch gibt. Das ist der Mensch vielleicht sogar noch weniger. Es kommt auf das richtige Selbstverständnis des Menschen an! Wie er sich wahrnimmt und versteht, wie er die Gemeinschaft und Gesellschaft versteht und wahrnimmt, in der es so etwas wie ‚Tugend‘ geben muss, wenn sie funktionieren soll. Rahner meint, dass es sie gibt bzw. dass sie unaufgebbar und unaufhebbar ist, jene 

„Tugend des tätigen Respekts vor der gegenseitigen Bezogenheit und gleichzeitigen Unzurückführbarkeit von Theorie und Praxis, von Erkenntnis und Freiheit. Sie ist die Tugend der Einheit und Verschiedenheit der beiden Größen, ohne die eine oder die andere zugunsten der andern zu opfern.“ Karl Rahner aus „Mut zur Tugend“,16-18

Religion und Annahme

Mir scheint, dass es kein Zufall ist, dass solch ein möglicher Weg von einem Theologen aufgezeigt wird. Denn letztlich geht es um das ‚Aushalten‘ einer Spannung, die nicht einseitig aufgelöst werden kann und werden darf. Dieses ‚Aushalten‘ muss möglich sein und darf nicht selbst wieder eine weitere Überforderung bedeuten. Darum ist die Voraussetzung hierfür in aller Deutlichkeit zu benennen. Ein anderer Theologe, Eugen Drewermann (geb. 1940) ist hier sehr aussagefähig. Er schreibt über die Religion als entsprechende Voraussetzung:

„Sie (die Religion) bietet in gewissem Sinn allererst die Grundlage dafür, dass Menschen hinreichend mit sich identisch sind, um tun zu können, was sie moralisch wollen und was sie ethisch sollen.“  Eugen Drewermann „Wendepunkte“, 15 f

Wir stehen vor dem Advent. Advent heißt Ankunft. Gemeint ist im christlichen Verständnis, dass GOTT bei uns ankommt – Weihnachten. Darauf bereitet sich jede und jeder Einzelne vor, vielleicht in der Stille oder im Vorbereiten von Geschenken für das bevorstehende Fest. Ob es nicht an der Zeit ist, darüber stärker nachzudenken, was uns ausmacht? Uns, im so genannten ‚christlichen Abendland‘? Mir scheint dies ein unerlässlicher Dienst an unserem Gemeinwohl zu sein.

Beitragsbild: Raymond D’Addario auf Wikimedia.org

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