Räume und Zeiten der spirituellen Tiefendimension des Lebens

Wochenimpuls Oktober 2025-1

Wir müssen nochmals ganz neu durch diese Dinge hindurchgehen

Wenn wir im Oktober, fast am Ende des Kirchenjahres, das mit dem Christkönigssonntag in der katholischen und dem Ewigkeitssonntag in den evangelischen Kirchen endet, bevor die Adventszeit ein neues Kirchenjahr einläutet – wenn wir also im Herbst des Jahres Räume und Zeiten der spirituellen Tiefendimension des Lebens bedenken, kommt mir ein Buch in den Sinn, das ich gerade in jenen Zeiten zur Hand nehme, wenn die Tage kürzer werden und die Nächte länger, wenn es früher dunkel wird und man sich kaum noch länger draußen am Tag im Freien aufhält. Im Herbst seines Lebens schrieb der ehemalige Mainzer Bischof und langjährige Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz Karl Kardinal Lehmann (1936 – 2018) das Buch „Es ist Zeit an Gott zu denken“ 1, (83), indem er – der Bischof und Kardinal – beklagte, dass heute so „vieles ritualistisch, sakramentalistisch, so selbstverständlich“ ist. 

Das ist insofern überraschend und bedenkenswert, wenn man weiß, dass diese Kritik nicht von Irgendjemandem kommt, sondern von einem ehemals führenden katholischen Geistlichen in Deutschland, von einem allseits geschätzten Gesprächspartner, der viele Jahre lang Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz war. 

Lehmann gräbt in diesem Buch sehr tief. Nirgendwo bleibt er an der Oberfläche. Besonders fasziniert mich seine Bezugnahme auf große Bilder, u.a. von Friedrich Nietzsche, dem Pastorensohn und vielleicht bekanntesten und auch begabtesten Religionskritiker des 19. Jahrhunderts:  

„Wir haben die Erde losgekettet von der Sonne, wie das Licht ausgeht auf Erden, alles wird kälter.“ (84) 

Und klagend fährt der Kardinal fort: 

Dass wir auch in den Kirchen den Namen Gottes preisgegeben haben“. (84) Und weiter: 

 „Ich habe mich mit all diesen Bildern intensiver beschäftigt und gespürt, dass dahinter alle großen Worte der Metaphysik, der Gotteserkenntnis stehen. Das ist nicht der frivole Atheismus, sondern da lebt zuerst ein ungeheurer Schmerz. Wir müssen nochmals ganz neu durch diese Dinge hindurchgehen, ohne damit zu kokettieren und ohne damit zu gaukeln.“ (84f)

Diese Worte haben mich tief bewegt, sie bewegen mich noch immer sehr.  Hier stöhnt und klagt ein führender Kirchenmann am Ende seines Lebens; ja, er schreibt seiner Kirche gewissermaßen in‘ s Stammbuch, dass sie vielfach nur „kokettiert“, „gaukelt“ und oftmals viel zu „selbstverständlich“ mit Gott umgeht. Lehmann beklagt ausdrücklich, dass die Kirche SEINEN Namen nicht selten „preisgegeben“ hat.  Das Bedenken der Räume und Zeiten der spirituellen Tiefendimension des Lebens kann, ja darf sich – auch und gerade heute – solche Tiefensonde der Analyse nicht ersparen. 


  1. Karl Lehmann „Es ist Zeit, an Gott zu denken“ – Ein Gespräch mit Jürgen Hoeren, Freiburg-Basel-Wien 2000 (Die Zitate stehen im Text mit Seitenzahl in Klammern, Hervorhebungen – RH) ↩︎
Foto von Andrzej Pokrzywiec auf Unsplash

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