Eine kleine Überraschung ist es schon: Franziskus zitiert mit sichtlich innerer Zustimmung Karl Rahner!
Hier der Brief, gegeben zu Rom, bei Sankt Johannes im Lateran, am 17. Juli 2024, dem zwölften Jahr meines Pontifikats. FRANZISKUS
1. Ursprünglich hatte ich einen Titel formuliert, der sich auf die Ausbildung von Priestern bezog, aber dann dachte ich, dass man diese Punkte analog auch über die Ausbildung aller pastoralen Mitarbeiter und aller Christen sagen kann. Ich beziehe mich auf den Wert der Lektüre von Romanen und Gedichten auf dem Weg der persönlichen Reifung.
2. Oft wird in der Langeweile des Urlaubs, in der Hitze und Einsamkeit verlassener Stadtviertel ein gutes Buch zu einer Oase, die uns von anderen Entscheidungen, die uns nicht guttun, abhält. Dann gibt es die Momente der Müdigkeit, des Ärgers, der Enttäuschung, des Scheiterns, und wenn es uns nicht einmal im Gebet gelingt, zur Ruhe zu kommen, dann hilft uns ein gutes Buch zumindest, den Sturm zu überstehen, bis wir ein wenig mehr Gelassenheit finden können. Und vielleicht eröffnet uns die Lektüre neue innere Räume, die uns helfen, uns nicht in jenen wenigen zwanghaften Ideen zu verschließen, die uns unerbittlich gefangen halten. Vor der Allgegenwart von Medien, sozialen Netzwerken, Mobiltelefonen und anderen Geräten war dies eine häufige Erfahrung, und diejenigen, die sie gemacht haben, wissen, wovon ich spreche. Das ist nicht etwas Überholtes.
3. Im Gegensatz zu den audiovisuellen Medien, bei denen das Produkt vollständiger ist und der Spielraum und die Zeit, die Erzählung zu „bereichern“ oder zu interpretieren, in der Regel geringer sind, ist der Leser beim Lesen eines Buches viel aktiver. Er schreibt das Werk in gewisser Weise um, erweitert es mit seiner Vorstellungskraft, erschafft eine Welt, nutzt seine Fähigkeiten, sein Gedächtnis, seine Träume, seine eigene Geschichte voller Dramatik und Symbolik, und so entsteht ein Werk, das sich von dem unterscheidet, das der Autor zu schreiben beabsichtigte. Ein literarisches Werk ist also ein lebendiger und stets fruchtbarer Text, der in der Lage ist, auf vielfältige Weise erneut zu sprechen und mit jedem Leser, dem er begegnet, eine originelle Synthese zu bilden. Bei der Lektüre wird der Leser durch das, was er vom Autor erhält, bereichert, was ihm aber gleichzeitig erlaubt, sich im Reichtum seiner eigenen Person zu entfalten, so dass jedes neue Werk, das er liest, sein persönliches Universum erneuert und erweitert.
Deus honoratur silentio, non quod nihil de ipso dicatur vel inquiratur, sed quia,
quidquid de ipso dicamus vel inquiramus, intelligimus nos ab eius comprehensione defecisse, unde dicitur Eccles. 43:
glorificantes dominum
quantumcumque potueritis, supervalebit adhuc.Thomas Aquinas, Super Boëthium De Trinitate I q.2 a.1 ad 6
Mi sento libero… Non mi fa paura niente.
Francesco, vescovo Romano