„Leben als ob es Gott gibt“

Antwort auf einen Leserbrief in der SVZ vom 01.11.2025 unter der Überschrift „Mode und Geschäft, aber kein Grund für Hass“.

Es gibt Leserbriefe, die einfach guttun. Der von Friedhelm Schülke aus Anklam gehört dazu. Vielen Dank dafür. In ihm kann ich Sätze lesen wie: „Christliche Feste verlieren immer mehr an Inhalt. Aber der Mensch braucht Ersatz und wendet sich stattdessen pseudo-religiösen Themen zu.“ Und es wird die Frage in aller Offenheit gestellt, und zwar an uns: „Eltern und Großeltern sollten sich fragen, welche Werte sie ihren Nachkommen mitgeben.“ Zur Offenheit kommt noch die Ehrlichkeit hinzu, wenn der Autor bekennt: „Dazu braucht es Mut, Zuwendung und Alternativen.“ 

Es bedarf in der Tat Mut und es bedarf großer Hoffnung angesichts von „Liebe, Leid und Tod“ (Drewermann) in dieser Weltstunde. Im fiktiven Dialog mit Fjodor Dostojewski und Albert Camus formuliert Eugen Drewermann: 

„Der Glaube…nur er lässt wirklich klar sehen, macht er doch fähig, die unmenschliche Absurdität in den Strukturen von Welt und Geschichte als das Inakzeptable allererst zu entdecken.“ (Grenzgänger,166)

Mich erinnert dies an Karl Rahner, der im Gespräch mit jungen Leuten sinngemäß formulierte, dass der Atheist nicht das mindeste Recht hätte, Leid und Not besonders ernst zu nehmen. Warum nicht? Weil in einer ‚blinden‘ Evolution, die von Unbekannt zu Unbekannt taumelt, die im unendlich großen und unendlichen kleinen Chaos von Molekülen und Atomen und von Jahrmillionen von Lichtjahren sich irgendwie und irgendwohin entwickelt, Fragen nach Sinn, Ziel und Grund nichts hergeben. Wo sollte denn ohne Geist, der wie ein „Zigeuner am Rande des Universums“ (Monod) taumelt, der wie ein Schimmel auf der materiellen Oberfläche des Seins auftaucht, nur um gleich wieder zu verlöschen oder zu verschwinden – wo sollte da auch nur der Hauch einer Antwort nach Sinn herkommen? 

Und doch taucht die Frage unabweisbar auf, wenn wir an unsere lieben Verstorbenen denken, wenn wir den Verlust eines lieben Menschen betrauern, wenn wir entrüstet sind über all die Not und das Elend, dem wir oft so hoffnungslos und ohnmächtig gegenüberstehen? Wie kann also jener Glaube heute weitergegeben werden, der uns in den Stand versetzt, „das Inakzeptable allererst zu entdecken“?  Auf diese Frage gab es schon vor über 50 Jahren eine praktische ‚Gebrauchsanweisung‘, die nichts an Aktualität eingebüßt hat und die das umsetzt, was Heinz Zahrnt einmal so überschrieb: „Leben als ob es Gott gibt“: 

„Bonhoeffer hat in seinen Aufzeichnungen in der Gefangenschaft einmal bemerkt, heute müsse auch der Christ leben…als ob es Gott nicht gäbe. Er müsse Gott aus den Verstrickungen des Alltags heraushalten und sein irdisches Leben auf eigene Verantwortung gestalten. Ich würde demgegenüber lieber genau umgekehrt formulieren: Heute sollte auch derjenige, dem die Existenz Gottes, die Welt des Glaubens dunkel geworden ist, praktisch leben…als ob es Gott wirklich gäbe. Leben unter der Wirklichkeit der Wahrheit, die nicht unser Produkt, sondern unsere Herrin ist. Leben unter dem Richtmaß der Gerechtigkeit, die wir nicht bloß denken, sondern die Macht ist und uns selber misst. Leben unter der Verantwortung vor der Liebe, die auf uns wartet und uns selber liebt. Leben unter dem Anspruch des Ewigen…wer sich, wenn auch vielleicht zuerst nur zögernd, diesem mühsamen und doch unausweichlichen Als-ob anvertraut – leben, als gäbe es Gott -, der wird immer mehr gewahr werden, dass dieses Als – ob die eigentliche Wirklichkeit ist. Er wird mit ihrer Verantwortung ihrer erlösenden Kraft inne werden.“ (Ratzinger, Dogma und Verkündigung, 455) 

Bild von Gino Crescoli auf Pixabay

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