„Sendung und Sammlung“ 1
Die durch die Zeiten pilgernde Kirche
Die neuen pastoralen Überlegungen im Erzbistum Hamburg unter dem Titel „Sendung und Sammlung“ nehmen zunächst eine Erkenntnis und Erfahrung auf, die Georg Bergner prägnant zusammengefasst hat in den Worten:
„Die durch die Zeiten pilgernde Kirche bleibt nicht davon verschont, ihre Gestalt als Antwort auf den Anruf Gottes immer wieder neu zu reflektieren. Die ekklesiologische Diskussion geht weiter.“ 2
„Die ekklesiologische Diskussion geht weiter.“ In der Tat, sie muss weiter gehen, weil es auch im Geistlichen keinen Stillstand gibt. Im Erzbistum Hamburg gab es verschiedene Prozesse, die allesamt versucht haben, auf die neuen pastoralen Herausforderungen adäquat zu antworten. Erinnert sei an „Salz im Norden“ und an die intensiven Bemühungen um das Verständnis Pastoraler Räume. Es greift zu kurz, wenn man monokausal den Priestermangel in‘ s Feld führen würde als alleinige Ursache der Schwierigkeiten, in denen wir uns im Erzbistum Hamburg offensichtlich befinden. Es sind ja nicht nur die Finanzen, die den Spielraum für viele Aktionen und Initiativen, auch der Verbände und anderer Orte kirchlichen Lebens, erheblich einschränken. Das Erzbistum Hamburg hatte noch vor einigen Jahren ca. 400.000 Mitglieder. Heute sind es nach jüngsten Erhebungen ca. 340.000. In wenigen Jahren – 60.000 Mitglieder weniger. Wenn diese Entwicklung in dieser Geschwindigkeit weitergeht – man schaue sich nur einmal den ‚Traditionsabbruch‘ in den Gemeinden ehrlich und genau an – wird man kein Prophet sein müssen, um zu erkennen, dass sich die Gestalt von Kirche als Institution in einem Maße verändern wird, von dem sich die Allermeisten heute kaum eine reale Vorstellung machen können.
Kirchenkrise – Glaubenskrise?
Es gibt allerdings weniger eine Kirchenkrise als eine Glaubenskrise. Priestermangel, Missbrauchsvorwürfe und schrumpfende Finanzen sowie leerstehende Immobilien scheinen das zunächst nicht zu bestätigen. Doch – und das ist Trost und Hoffnungsperspektive zugleich – Glaubenszeugen unserer Kirchen haben schon sehr früh – man könnte fast sagen ‚in prophetischer Manier‘ – diese Entwicklung gesehen und eingeordnet. Sie haben vor allem tiefer und weitergesehen, als viele andere. Darum ist deren Zeugnis von einer Relevanz, die gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann und deren Würdigung oftmals noch aussteht. Sie konnten diese – oft schonungslose Analyse – vor allem auch deshalb wagen, weil sie einen untrüglichen Kompass bei sich hatten: Das war ihre Liebe zu dieser Kirche. Diese Liebe war nicht infantil, ganz im Gegenteil. Oft war es ein Leiden mit und an der Kirche. Gerade weil sie ja „Sakrament des Heils“ für die Welt und in der Welt ist. Kirche ist nicht Selbstzweck. Sie ist eine Gemeinschaft der ‚Herausgerufenen‘, der Berufenen, Ekklesia. Und sie ist eine sich immer wieder erneuernde Kirche, deren Haupt und Herr Jesus Christus selbst ist. Um dieses Seins und dieses Auftrages wegen ist nichts unsinniger als das Sich-Abkapseln, sich Verschließen. Nein, Kirche muss immer wieder neu die „Schleifung der Bastionen“ 3 vollziehen.
Glaubenszeugen
Joseph Ratzinger-Benedikt XVI.
Die Kirche kann das, ihre ‚Bastionen schleifen‘. Ja, sie muss das sogar, und sie darf sich dabei auf das Zeugnis jener Bekenner stützen, deren Hauptanliegen es war, diese Kirche so mitzugestalten, dass sie das Zeugnis Jesu auch in unseren Tagen in eine Welt hineinhält, die – oft ohne sich dies reflexiv sagen zu können – gerade dieses Zeugnis nötiger hat als vieles andere.
Einer dieser Glaubenszeugen, dessen Mahnungen und Warnungen wir nicht ohne Schaden überhören dürfen, war Joseph Ratzinger (1927- 2022) der spätere Papst Benedikt XVI. Er schrieb vor über 50 Jahren über die Kirche der Zukunft:
„Sie wird klein werden, weithin ganz von vorne anfangen müssen…Sie wird auch gewiss neue Formen des Amtes kennen und bewährte Christen, die im Beruf stehen, zu Priestern weihen: In vielen kleineren Gemeinden bzw. in zusammengehörigen sozialen Gruppen wird die normale Seelsorge auf diese Weise erfüllt werden. Daneben wird der hauptamtliche Priester wie bisher unentbehrlich sein.“ 4
Manch einer wird sich vielleicht verwundert ‚die Augen reiben‘, gilt doch Papst Benedikt vielen heute als d e r große Konservative. Dabei war gerade dieser Papst jemand, der konservativ im besten Wortsinn verstand: Das, was gut ist, was bewährt ist, sollte bewahrt werden. Nur so, ohne ‚Gewichtserleichterung‘ im Wesentlichen, lässt sich Zukunft gewinnen.
Hans Urs von Balthasar
In ähnlicher Art und Weise dachte auch Hans Urs von Balthasar (1905-1988), der große Schweizer Theologe. Die nachfolgenden Zitate stammen aus einem Büchlein, dass Karl Lehmann – trotz des geringen Umfangs – als ein „Jahrhundertbuch“ bezeichnet hat und zu dem sich Hans Urs von Balthasar bis zu seinem Lebensende bekannt hat.
„Man kann von der der Kirche aufgetragenen, von ihr im Gehorsam vollzogenen Unduldsamkeit, was die unverbrüchliche Wahrheit Gottes betrifft, keinen Fingerbreit abgehen…Dennoch kann man die Kirche das alles sein und tun nur dann mit Beruhigung sehen, wenn der Leuchtturm, dessen Schein von der Spitze her die Wogen bestreicht, an seinem Fuß von denselben Wogen bespült wird…von einem echten Eingehen auf alle Gestalten menschlicher Welterfahrung, die fremdesten nicht ausgenommen…“ (68) 5
„Eine scheinbare Überbelastung des Hierarchischen führt von selber zu einer Förderung des Demokratischen, während das Ernstnehmen des Demokratischen sofort und unweigerlich für jeden, der daran rührt, zur persönlichen Auswahl, Anforderung, Sendung im Sinne kirchlichen Apostolats in der Welt wird.“ (79)
„Die Veräußerlichung des Kirchenverhältnisses für eine überwiegende Zahl von Kirchenmitgliedern, wie es für lange Jahrhunderte feststellbar ist, kann daher nur als eine Verdunkelung des Eigentlichen und Ursprünglichen angesehen werden, ihre Überwindung als das Hinausschaffen eines Fremdkörpers.“ (79)
„Aber hat die Theologie mit diesem Wandel Schritt gehalten, oder ist nicht das christliche Leben ihr einige Sprünge voraus? Manche sind heute bereit, ihr Leben für Kirche und Welt zu geben…Ihnen täte eine Theologie not, die das christliche Dasein unter dem Gesichtspunkt des Dienstes, des Auftrags, des Mitstrahlens und Mitverzehrtwerdens schildert. Wäre eine solche einmal klar durchdacht und auch in den christlichen Unterricht hinein volkstümlich gemacht, so könnte neue Kraft aus den christlichen Gemeinden in die Welt ausstrahlen.“ (53)
Auch hier wird sich manch‘ Einer vielleicht ein wenig verlegen und scheu die ‚Augen reiben‘. Ist es denkbar, dass Balthasar von einer „Förderung des Demokratischen“ sprach angesichts einer „scheinbare(n) Überbelastung des Hierarchischen“ oder von einer „Veräußerlichung des Kirchenverhältnisses… als eine Verdunkelung des Eigentlichen und Ursprünglichen“? Das ist nicht nur denkbar – so hat Hans Urs von Balthasar unmissverständlich formuliert! Er stellte – lange vor dem Konzil! – unerbittlich die Frage, was dieser unserer Kirche tatsächlich nottut. Und was braucht diese Kirche, um glaubwürdig zu sein? Menschen, die suchen, Menschen, die fragen, was brauchen sie? Was brauchen sie vor allem anderen? Hier ist Hans Urs von Balthasar fast ein ‚Patron der Caritas‘, wenn er sagt, dass es einer Theologie bedarf, „die das christliche Dasein unter dem Gesichtspunkt des Dienstes, des Auftrags, des Mitstrahlens und Mitverzehrtwerdens schildert.“
Deutlicher geht‘ s nimmer. Und wie oft höre ich etwas von der Einheit von Caritas und Kirche. Nein, es gibt gar keine Caritas ohne Kirche wie es keine Kirche ohne Caritas gibt! Schaut nach bei Balthasar! Es geht um eine Theologie des Dienstes – und zwar auf allen Ebenen unseres kirchlichen Auftrags – wir sind nicht für uns da, wir sind gesendet in eine Welt, die dringend unser Zeugnis braucht, auch wenn sie es oft genug nicht wahrhaben will. Darum wird es auch oft ein Dienst des „Mitstrahlens“, ja des „Mitverzehrtwerdens“ sein. Darunter ist Christsein, ist „Kirche in der Welt von heute“ nicht zu haben!
Karl Rahner
Last not least im Reigen der Glaubenszeugen, bei denen wir uns im Prozess von „Sendung und Sammlung“ in die Schule zu begeben haben, ist Karl Rahner (1904-1984). Wir sind eigentlich gewohnt, in umgekehrter Reihenfolge zu denken: Wir versammeln uns um das Allerheiligste herum und gehen dann – gestärkt mit dieser ‚himmlischen Speise‘ – hinaus in die Welt, um dort tätige Nächstenliebe zu üben. Das alles ist zunächst nicht zu kritisieren. Es ist oft gut gemeint und hat über viele Jahrhunderte reiche Frucht getragen. Aber: Heute ist die Situation eine andere. In der Welt, in der wir leben, sind fast sämtliche Lebensvollzüge fast vollständig säkularisiert. Und die Frage steht unerbittlich vor uns: In diese Welt sind wir als Kirche gestellt – was ist das (bloß) für eine Welt? Kommt Gott in ihr überhaupt vor? Begegnen wir nicht einer ‚gottlosen‘ Welt im Großen wie im Kleinen, in der sich der „Christ und seine ungläubigen Verwandten“ 6 nur mühsam zurecht zu finden vermag? Oder verhält es sich doch ganz anders, weil nicht erst seit dem II. Vatikanum gilt, dass der allgemeine Heilswille Gottes – weil er Gottes Heilswille ist! – immer auch ein wirksamer ist? Begründet er nicht einen ‚Heilsoptimismus‘, dessen Hoffnung sich keine Grenze endgültig befehlen lässt? Und öffnet er nicht den Raum des Dialogs mit der ‚Welt‘, in dem die Kirche nie nur Lehrende, sondern oft genug auch Lernende ist?
Karl Rahner hat dies bereits vor über 50 Jahren gesehen und eingefordert. Für diese Sicht hat er sich wenig Freunde gemacht in einer Kirche, die noch „voll Glorie schauet“ und die sich oftmals weigerte, zu sehen, dass die festgefügten Mauern längst ‚geschliffen‘ wurden und das „Zelt Gottes unter den Menschen“ unsere eigentliche irdische Heimat ist.
„Wo lassen wir uns darüber belehren, dass alles gesellschaftskritische und gesellschaftspolitische Engagement, das heute als Kampf für mehr Freiheit und Gerechtigkeit heilige Pflicht der Christen und der Kirche ist, eine geheime Spiritualität in sich birgt oder bergen müsste, weil es für den Christen herauswächst aus jener innersten, absoluten Verpflichtung, die den Menschen vor Gott stellt, ob er dies reflektiert oder nicht?“ 7
Die „geheime Spiritualität“, die im TUN unserer Sendung liegt – sie ist nichts anderes als das gnadenvollen Wirken Gottes in der Welt. Sie geschieht in der Begegnung. Diese Gnade kommt auf uns zu, fordert uns an! Uns ist aufgetragen, diese – oft sogar sehr ‚anonymen‘ Spuren – sensibel wahrzunehmen, um in unserer Sendung unsere vielen, oft namenlosen Verbündeten wertzuschätzen, sie mit einzubeziehen in unsere Sendung, uns ihnen gegenüber als Schwestern und Brüder im Glauben zu verhalten, auch wenn sie – aus welchen Gründen auch immer – (noch) nicht den Namen dessen kennen, in dessen Nachfolge sie durch ihr Tun längst eingetreten sind. Nichts ist liebloser und unsinniger als einer Vereinnahmung das Wort zu reden. Das Wort vom „anonymen Christen“ ist ausschließlich eine „innerkirchliche Verständigungsformel“ (Miggelbrink), um die Würde des ‚Nichtglaubenden‘ nicht zu untergraben. Es ist gerade auch Aufgabe der Sammlung, diese „geheime Spiritualität“ wahrzunehmen, sich ihrer zu vergewissern, anzuleiten, sie (besser) wahrzunehmen, sie zu schützen, zu hüten und zu pflegen. Heute wird von uns eine vernetzte Pastoral gefordert. Dabei ist die eigene Hoffnung nur insofern gerechtfertigt für all unser Tun, wie sie in gleichem Maße für alle anderen Menschen, ja für Gottes gesamte Schöpfung gilt. Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung – dieser Rahmen ist unserer Sendung gesetzt, für die wir in der Sammlung Stärke, Trost und Beistand erbitten.
Wenn heute, in der Vermögens- und Immobilienreform – oft unter Schmerzen – Abschied genommen wird von liebgewonnenen Gebäuden ebenso wie von lieben Gewohnheiten, dann würde Rahner sicherlich diese Trauerarbeit pastoral mit begleiten. Vorher jedoch würde er ‚seiner‘ Kirche mehr als es ihr vielleicht auch heute lieb ist, ‚ins Stammbuch schreiben‘:
„Es müssen Entscheidungen fallen, auch wenn sie jene harte Einseitigkeit in sich tragen, die unter mehreren guten Möglichkeiten eine auswählt, die nicht alles Gute der anderen Möglichkeiten in sich bergen kann.“ 8
Es war die buchstäbliche Liebe zur Kirche, die Rahner bis zu seinem Lebensende antrieb, sich den Nöten und Sorgen zu zuwenden. Keine Frage war ihm zu dumm oder überflüssig. Und auch wenn er sich zuweilen, wie ein „Hofnarr“ vorkam, dessen Meinung mit Höflichkeit ebenso angehört, wie sie stillschweigend ignoriert wurde, äußerte er noch unmittelbar vor seinem Tod eine Befürchtung, dass die Kirche ihrer Aufgabe nicht gerecht wird, weil sie bei der ‚Mittelvergabe‘ sich schlicht falsch einschätzt.
„Ein ganz wichtiger Punkt für mich betrifft meine alte Frage, ob die Kirche noch gut beraten ist, wenn sie das System flächendeckender Pfarreien immer noch aufrechterhalten will, oder ob es, so problematisch das Bild ist, nicht besser wäre, blühende Oasen zu schaffen, auch wenn dadurch menschlich, seelsorglich und ekklesiologisch gesehen, viele und weite Wüstenzwischenräume bleiben.“ 9
Gerade hierfür bekam er keinen Beifall. Viele meinten seinerzeit, dass es nun genug sei und er doch schweigen solle. Doch sind wir heute – in „Sendung und Sammlung“ – nicht genau dort, wo Rahner, Ratzinger und Balthasar die Kirche schon seinerzeit verorteten? Und zwar nicht nur formal, sondern vor allem auch inhaltlich.
Hans Urs von Balthasar sprach von einer „Theologie des Dienstes“. Diesem ‚Patron der Caritas‘ stelle ich Karl Rahner an die Seite. Wie kaum ein anderer Theologe äußerte sich Karl Rahner zu Themen der Caritas, sei es zur Gefängnisseelsorge, sei es zur Bahnhofsmission, zur Theologie des Kindes oder zur Theologie des Buches. Und seine Sicht auf Kirche, auf Caritas, sie ist so eindeutig und sinnstiftend, dass der Caritasverband gut beraten ist, dieses Leitbild immer wieder anzuschauen, daran Maß zu nehmen, ein pastoral-caritatives ‚Controlling‘ einzurichten, wie weit wir diesem Leitbild gerecht werden oder hinter ihm zurückbleiben:
„Die Caritas…sucht … jeden Menschen, ihn… den gottgeliebten, den Menschen der ewigen Bestimmung; sie ist eine Liebe, der es nicht verwehrt sein darf, im Menschen unendlich mehr zu sehen als einen bloßen Menschen, sie ist eine Liebe, die den Menschen mit den Augen der Weisheit Gottes und der Liebe des Heiligen Geistes anschaut, die Liebe, die die schöpferische Herablassung Gottes mitvollzieht. Dieser Verband kann darum nie von seinem religiösen Ursprung und seiner christlichen Wurzel losgerissen werden, er kann nicht anders als mitarbeiten wollen an dem Heil des ganzen und einen Menschen in Gott, er kann sich nicht einschließen lassen in bloß irdisch soziale Fürsorge; das Leitbild seiner Fürsorge und seines Schutzes, das Besorgte und Behütete ist der Mensch der Unsterblichkeit…“(Karl Rahner „Sendung und Gnade“, Innsbruck-Wien-München, 1961, S. 421f – dritte durchgesehene Auflage, erste Auflage S. 425f – kursiv RH)
Es gab – aus unterschiedlichen Motiven heraus – eine Rahner-Kritik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die ihm vorwarf, er hätte das Maß der göttlichen Liebe, das im Einsatz Jesu ansichtig wurde, aus den Augen verloren. Heute – in einem gewissen zeitlichen Abstand dazu – steht man fast fassungslos vor dieser Unterstellung, wenn man liest, dass wir als Christen berufen sind, die „Menschen mit den Augen der Weisheit Gottes und der Liebe des Heiligen Geistes“ anzuschauen und wenn über diese Liebe von Rahner gesagt wird, dass solches caritative Tun „die schöpferische Herablassung Gottes mitvollzieht“.
Kann es eine größere Berufung geben? Berufen zur Caritas, Deus Caritas Est – Gott ist die Liebe. Dies war nicht zufällig der Leitgedanke der ersten Enzyklika von Papst Benedikt XVI.
Karl Rahners Impulse sind für „Sendung und Sammlung“ von einer geistlichen Relevanz, die kaum überschätzt werden kann. Ein Verlagslektor brachte in einem Erinnerungsbuch an Karl Rahner seine Impulse auf eine ‚Summenformel‘. Ich hoffe sehr, dass sie die Stellung eines geistlichen Vermächtnisses in unserem Erzbistum Hamburg einnehmen.
„Der erste und fundamentale Leitgedanke baut auf den Satz auf:>>Du hast mich ergriffen, nicht ich habe dich begriffen<<. Daraus dürfen wir schließen, dass wir mehr sind, als wir ahnen können, und dass die große Tat unseres Lebens nur die sein kann, uns selbst anzunehmen und dass >>wer Gott lieben will, ihn schon liebt<<. Der zweite Grundzug seines geistlichen Lebens bewegt sich um die Liebe zum Alltag und zum Gewöhnlichen, darin sich die Sternstunden verbergen, sowie um die Geduld mit unseren Mitmenschen. Eine dritte Perspektive kehrt zum Anfang zurück mit dem Erkennen der Würde des Gebetes als der einzig gemäßen menschlichen Sprache mit Gott. Es folgen eine Auslegung des Glaubens als eines Glaubens in der Kirche und zuletzt eine Betrachtung über das Unerlässliche unseres >>Kniens vor dem gebenedeiten Kreuz<<.“ (Robert Scherer über Karl Rahner in „Worte gläubiger Erfahrung“, Freiburg-Basel-Wien 1985, Neuausgabe 2004, S. 12- kursiv RH)
Eugen Drewermann
Glaube kommt nicht ohne Sehnsucht aus. Die Sehnsucht nach ‚Mehr‘, sie ist uns von IHM ins Herz gelegt. Unausrottbar, denn „Es muss doch mehr als alles geben“ (Dorothee Sölle) Darum wird Religion immer sein. Doch oftmals bedarf es einer „Öffnung des Herzens“ (Karl Rahner)
Und mitunter gelingt diese „Öffnung des Herzens“ auch durch Menschen des Glaubens, die – aus welchen Gründen auch immer – diese, SEINE Kirche verlassen haben. Uns bleibt die Hoffnung, dass SEINE Barmherzigkeit immer größer ist als unser anklagendes Herz. Darum hat Jesu Mahnung Bestand: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet.“ Und darum möchte ich meine Überlegungen zum Pastoralprozess „Sendung und Sammlung“ in unserem Erzbistum Hamburg mit einem Glaubenszeugen beschließen, der um den Glauben wirbt und der gleichzeitig mit der Institution Kirche gebrochen hat, Eugen Drewermann. (geb. 1940). Ihm hat der Theologe Eugen Biser bescheinigt, dass er eine Sprache spricht, auf die man heute (noch) hört. Eine Sprache des Lebens, der Sehnsucht, der Liebe, des Glaubens und der Hoffnung. Möge auch sein Impuls uns Mut machen, die Sehnsucht nach ‚Mehr‘ wach zu halten oder neu zu entfachen:
„Wenn Glaube wieder glaubhaft werden soll, dann nur, indem man ihn vom Leben her begründet…Die Umkehrung der ganzen Strömungsrichtung, die Ahnung wenigstens vom Ort des eigenen Ursprungs sowie die Sehnsucht nach der Heimat, die so weit entfernt liegt und aus der doch alles Leben über das Meer der Zeit herüberweht – in solchen Bildern lässt sich wohl beschreiben, was es heute heißt, ein Christ zu sein. (Eugen Drewermann, „Wendepunkte“, Ostfildern 2014, S. 38f)
Vielleicht ist es ja auch der ‚Trick‘ des lieben Gottes, der bekanntlich ‚auf krummen Linien gerade zu schreiben‘ vermag, dass er auch Menschen, die mit einigen Brüchen zu kämpfen haben in ihrem Leben, eine Gabe schenkt, die in großem Maße sinn- und hoffnungsstiftend auch für Andere wird. Ich kenne kaum eine sehnsuchtsvollere ‚Liebeserklärung‘ an die Kirche als jene von Eugen Drewermann aus seinem Spätwerk:
„Dann verbleibt eine nie endende und tief empfundene Dankbarkeit zu jener <<unsichtbaren Kirche>>, die besteht aus all den vielen, die in ihrem Leben und mit ihrem Leben standen und einstanden für ihren Glauben an die Botschaft Jesu, ein Reich Gottes sei möglich inmitten dieser Welt. Durch ihren Einsatz, ihre Unbeirrbarkeit, durch ihren Mut und ihre Treue ging Jesu Zeugnis weiter, und jeder, der es auf sich nimmt, erkennt in ihnen seine wahren Brüder, seine wahren Schwestern wieder. Es gibt sie doch, jene Gemeinschaft <<aller Heiligen>>, der wir in aller Unvollkommenheit, doch voller Sehnsucht bewundernd und bestärkt entgegenwandern, von ihr getragen und verlockt in dem Gebet, das Jesus seine Jünger lehrte: <<Unser Vater, himmlischer du, was du bist, das gelte, was du wirkst, das komme, was du willst, geschehe, wie im Himmel, so auf Erden.“<< (Mt 6,9.10 (Eugen Drewermann „Wendepunkte“ Ostfildern 2014, S.326)
Karl Rahner II
Was für eine Sprache! Was für ein Ausdruck von Hoffnung und Zuversicht auf das Kommen SEINES Reiches! Dieser poetischen Sprache der Sehnsucht und Liebe stelle ich schlussendlich noch einmal Karl Rahner an die Seite, der ‚fuchsteufelswild‘ wurde, wenn man ihn fragte – ob er und wenn ja, warum – er in der Kirche bleibe. Rahner litt an dieser Kirche, mit dieser Kirche und in dieser Kirche. Aber er litt darum so sehr, weil er diese ‚seine‘ Kirche so sehr liebte. Und bei allen Strukturdiskussionen, bei allen Fragen der Immobilien, der Finanzen und des Personals – wenn die Liebe nicht die alles überragende und alles integrierende Tugend bei allem ist und bleibt, wird unser Tun nicht gesegnet sein. Wenn wir aber aus dem Geist der Liebe heraus denken und handeln, wird uns der Satz des Hl. Augustinus Maßstab und Leitbild bei all unserem Tun sein – und bleiben: „Liebe – und tu, was du willst!“
„Ein Auszug aus der Wahrheit der Kirche, aus ihrer Botschaft von dem lebendigen, bergenden Geheimnis, das wir Gott nennen, aus der Hoffnung des ewigen Lebens, aus der hoffenden Teilnahme an dem Tode Jesu, der sich hoffend und liebend in dieses Geheimnis Gottes fallenließ, aus der Gemeinschaft der Liebe, Kirche genannt, aus der Annahme der Vergebung unserer Lebensschuld, kurz, aus alldem, was Kirche heißt, würde den Menschen nicht in ein größeres Reich des Sinnes, des Lichtes, der Freiheit und der Hoffnung führen. Ein solcher Auszug wäre eben doch nur entweder ein Sich-fallen-Lassen in eine dumpfe Dunkelheit der Skepsis und des billigen Relativismus oder der fragwürdige Versuch, allein aus den geringeren Resten von Sinn, Licht und Mut, die noch bleiben, zu leben, ohne dass man eigentlich sieht, warum diese Reste mehr Zustimmung und Vertrauen verdienen als jene Fülle des Sinns, der in der Kirche gegeben und lebendig ist.“ 10
- Pastoralkonzept im Erzbistum Hamburg 2025 ↩︎
- Georg Bergner „Volk Gottes“, Würzburg 2018, S. 522 ↩︎
- Buch von Hans Urs von Balthasar 1952 (!) ↩︎
- Joseph Ratzinger „Glaube und Zukunft“, München 1970, S. 122 f ↩︎
- Hans Urs von Balthasar „Schleifung der Bastionen“, Einsiedeln 1952 – Die in Klammern gesetzten Zahlen geben die jeweilige Seitenzahl an. ↩︎
- Buchtitel von Karl Rahner ↩︎
- Karl Rahner „Strukturwandel der Kirche als Aufgabe und Chance“, Freiburg-Basel-Wien 1972, S. 91 ↩︎
- Karl Rahner „Strukturwandel der Kirche als Aufgabe und Chance“, Freiburg 1972, S. 52 ↩︎
- Karl Rahner „Glaube in winterlicher Zeit“ Düsseldorf 1986 – Rahner gab dieses Interview 1984 (!), also fast könnte man sagen, dass er diese Vorstellung äußerte, de facto kurz vor seinem Tod in der Nacht vom 30.3. auf den 31.3 1984 ↩︎
- Karl Rahner „Schriften zur Theologie“, IX, Einsiedeln-Zürich-Köln 1970, S. 489; auch in SW, 24/1, S. 189-202; auch im Jahreslesebuch von Karl Rahner „Unbegreiflicher- so nah“, Mainz 1999, S. 119 (31. Juli) ↩︎
Bild von Thomas Hoffmann, webdesign TH