Oder was man von Karl Marx heute noch lernen kann!
„Man muss doch in jedem Fall für ein Gespräch über den Frieden bereit sein.“ So tönte heute Morgen im Radio die Stimme eines BSW- Abgeordneten des Europa-Parlamentes. Weißt er es nicht besser oder in wessen Auftrag handelt und spricht dieser Mensch? Niemand hat etwas gegen Friedensgespräche. Und wenn so getan wird, als gehe dieser Appell gleichermaßen an Russland und die Ukraine, dann fällt mir nur noch ein drastischer Vergleich ein: Es gibt keinen Unterschied in dieser Rede zwischen Vergewaltiger und Vergewaltigtem. Und der, der vergewaltigt wird, soll allerhöchsten noch darüber ‚verhandeln‘, dass es nicht so sehr schmerzt?! Oder wie soll ich diese perverse Gleichstellung verstehen?! Dabei ist der Weg zum Frieden sehr einfach, allen Fake News zum Trotz: Sofortige Wiederherstellung der staatlichen Souveränität der Ukraine entsprechend des Völkerrechts und des Budapester Memorandums. Dann, aber auch erst dann, könnte und sollte man reden über Sprachen, über Selbstverwaltung in den einzelnen Landesteilen, über die Fragen von Minderheitenrechten und anderes mehr. Aber erst dann! Und dann sollten die gleichen Maßstäbe gelten – auch die der nachhaltigen Sicherheit! – für die Menschen in der Ukraine und in Russland. Ist das wirklich so schwer zu verstehen???
Interessengeleitete Politik
Es war sicherlich mehr als ein glücklicher Zufall, dass mein Heimatpfarrer mir empfahl, im Staatsbürgerkundeunterricht der DDR besonders gut aufzupassen. „Du musst doch wissen, was gegen die Religion gesagt wird“, so sein Hinweis. „Erst dann wirst du auch vernünftig antworten können.“ Ich habe wohl diesen Rat einigermaßen befolgt; in diesem Fach war ich durchaus nicht der Schlechteste in der Klasse. Und was haben wir dort gelernt? Beispielsweise dass die Produktionsverhältnisse von entscheidender Bedeutung sind. „Es ist das Sein, das das Bewusstsein bestimmt.“ Marx wandelte nicht – zumindest nicht in diesem Zusammenhang – auf atheistischen Pfaden. Ihm ging es hier darum, eine Aussage zu treffen in Bezug auf ‚Klasseninteressen‘ im Produktionsprozess. Wem die Produktionsmittel gehören, der hat andere Interessen als jene, denen sie nicht gehören. Und diese Interessen bestimmen wesentlich das menschliche Zusammenleben. So konnte Karl Marx in seinem Werk nachweisen, wie sehr wirtschaftliche Interessen bestimmend sind. Das trifft in sehr bedeutsamem Ausmaß auch auf Intentionen und Verhalten im politischen Geschehen zu, weil Politik offensichtlich bestimmten Interessen dient oder, wie es soziologisch ausformuliert klingt, immer ‚interessengeleitet‘ ist.
Das o. g. Beispiel ist in dieser Hinsicht ein Lehrstück, denn es ging noch weiter. Der BSW-Europa-Abgeordnete ließ leicht erkennen, in wessen Interesse er sprach, indem er in seinem Beitrag auf die ‚ostdeutsche Wirtschaft‘ verwies. Er beklagte, dass durch das Fehlen von (vergleichsweise billigem) russischen Gas und Öl, das durch die westlichen Sanktionen uns, hier in Deutschland, besonders im Osten, doch so viele Nachteile entstehen. Die Rede war zudem von den traditionell engen Beziehungen ‚Ostdeutschlands‘ zu Russland aus vergangenen Tagen und dass man in Europa doch nur mit Russland eine Friedensordnung dauerhaft errichten könne.
Freundschaft auf Befehl
Marx hat mir insofern geholfen, als er mir half bei der Interessensklärung: Niemand, außer Russland selbst, hat die Zusammenarbeit in Europa durch aggressives Verhalten, schon in den 90iger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, aufgekündigt. Unter Putin nahm die Aggressivität und Intoleranz seines Regimes permanent zu. Seine Rhetorik erinnerte im Deutschen Bundestag an die Kreide, die der Wolf im Märchen gefressen hatte, damit seine Stimme weich klingt und nicht so tief, was ja ihn als Wolf verraten hätte, der rauben und reißen will. Es dauerte allerdings nicht lange, bis Putins Maske vollends fiel. Nicht erst bei der Münchner Sicherheitskonferenz und auch nicht erst 2014! Die tschetschenische Hauptstadt Grosny steht wie ein Symbol und Menetekel dafür, was Putin und sein Regime unter Frieden verstehen. Dass man von den engen Beziehungen Ostdeutschlands zu Russland heute einfach so redet, scheint auch darauf abzuzielen, dass immer weniger Menschen (die man ja erreichen will, um gewählt zu werden!) heute in Deutschland wissen und erfahren haben, dass das kommunistische Zwangsregime in der DDR eine ‚Freundschaft mit dem Lande Lenins‘ kategorisch befahl und auf allen Ebenen umsetzte. Und zwar um jeden Preis! Man kann ja -gerade bei jüngeren Leuten und in bewährter AfD-Manier – auf Geschichtsvergessenheit setzen.
Dass dabei Folklore und Begegnungen, die die Heimatverbundenheit zum Ausdruck bringen sollten, auch mit ‚im Spiel waren‘, ist kein Widerspruch, sondern Bestandteil, der das Wesen der ‚Zwangsbeglückung‘ nicht aufhebt.
Politstrategen mit Friedensbeteuerungen
In wessen Interessen wird etwas gesagt und getan? Gut, dass Marx mir an dieser Stelle die Augen geöffnet hat. Weil die Antwort auf die Frage zum Frieden in der Ukraine so offensichtlich einfach, so evident ist, und AfD, BSW und die Partei DIE LINKE in dieser Frage identische Ziele verfolgen, darum sind sie auch fast deckungsgleich in ihren Parteiprogrammen, was die Frage der Unterstützung der Ukraine anbetrifft. Dabei sind diese ‚Politstrategen‘ mit ihren ‚Friedensbeteuerungen‘ weder dumm noch leichtfertig. Marx hat mich gelehrt, dahinter die Interessen zu sehen, die da sind: Gas, Öl, die eigene Ruhe, der eigene Wohlstand („Was kehrt mich das Leid der anderen, wenn nur ich mein Auskommen und meine Ruhe habe?“), die Interessen Russlands, die Destabilisierung der eh‘ nur verächtlich gemachten ‚bürgerlichen Demokratie‘.
Vernichtung vs. strategischer Optionen
Im ‚kalten Krieg‘ hatte man Angst vor der Vernichtung von allem. Das sicherte zumindest einen ‚Angst-Frieden‘. Angst vor der Vernichtung von allem und allen. Ein gutes Fundament war es nicht, aber – zumindest global – sicherte es den Fortbestand unserer Zivilisation. Wenn es Kriege gab, waren sie fast immer ‚Stellvertreterkriege‘, die die ‚letzte Karte nicht ausspielten‘. Jetzt scheint es anders zu sein, jetzt probt Russland- durchaus auch im Blick von China, das abwartet, ob das, was vielleicht in der Ukraine gelingt, auch mit Taiwan zu schaffen ist – ob nicht unterhalb der strategischen Nuklearoption, wo es um alles oder nichts geht, ein Krieg mit moderneren konventionellen Waffen doch gewonnen werden kann. Dafür sind totalitär Herrschenden sämtliche Mittel recht. Darum ging es beispielsweise auch bei dem damaligen sogenannten ‚NATO-Doppelbeschluss‘ – (Wer erinnert sich daran heute noch, an die Gleichzeitigkeit von Nachrüsten und Verhandlungsangebot, die durchaus zum Erfolg führte.) ob es nicht auch mögliche ‚taktische Nuklearschläge‘ geben könne, also ‚Atomschläge‘, die nur begrenzt erfolgen, beispielsweise in Europa und die die allerletzte Option der totalen Vernichtung deshalb nicht eintreten lässt, weil davor jeder zurückschreckt. Darum wurden – und zwar zuerst, diese Angabe ist unbedingt zu beachten bei der Beurteilung der Situation – in der Sowjetunion die SS- 20 Raketen Mittelstreckenwaffen aufgestellt, die auch atomar bestückt werden können. Darum geht es im Letzten auch bei der Frage des Aufstellens von Mittelstreckenwaffen in Europa, um Russland die Option für Europa zu nehmen, unterhalb der Interkontinentalraketen in begrenzter Weise mit atomaren Waffen andere Länder zu bedrohen oder zu verwüsten, ohne dass der schlimmste Fall automatisch eintritt. Die Frage scheint nicht illegitim zu sein, ob Russland die Ukraine angegriffen hätte, wenn diese militärisch wesentlich stärker gewesen wäre.
Heilige Lügen
Heute wie damals sind die Szenarien ähnlich. Die Lügen sind es auch, denn Frieden im europäischen Haus gibt es nur, wenn Friedenswille und Friedensfähigkeit auf allen Seiten ausreichend vorhanden sind. Fast lächerlich ist die Behauptung der ‚Osterweiterung‘ der NATO. Wer einmal in Schweden oder anderen kleinen Baltischen Staaten war, der spürt, dass es die pure Angst vor dem aggressiven großen Nachbarn ist, die den Schutz des NATO – Bündnisses sucht. (Z. T. nach jahrzehntelanger Neutralität) Diese Lügen sind nicht neu; im Kalten Krieg meinte man, die Rüstungsproduktion ankurbeln zu müssen – nein, nicht um Satelliten in Afrika und Asien mit Waffen auszustatten, daran zu verdienen und sie abhängig zu machen – Gott bewahre, so etwas passiert doch im Sozialismus/Kommunismus nicht! Dort gibt es doch keinen ‚militärisch-industriellen Komplex‘, ebenso wenig wie heute in Russland, China oder Nordkorea. Und auf den Gedanken, dass mit Waffen viel Geld zu verdienen ist – darauf kommt man doch nur im so genannten ‚Westen‘. Dort – und nur dort im ‚Westen‘! – woanders regieren Heilige, die sich in Solidarität und ‚proletarischem Internationalismus‘ üben- giert man ständig nach Profitmaximierung. (Man fragt sich, wann endlich Putin und Co. einen eigenen selbstlosen Orden der Mildtätigkeit eröffnen.).
Und um all die aggressiven Pläne des Sowjetimperiums zu verschleiern, erfand man – ähnlich wie heute die NATO-Osterweiterung – das Märchen vom notwendigen ‚Schutz‘ vor ‚westlicher‘ Einkreisungspolitik durch die vielen US – Stützpunkte weltweit. So, als ob schwache Länder auch damals – mit Hilfe des ultimativen Bösen, mit Amerika – die hochgerüstete Nuklearmacht Sowjetunion vernichten wollten.
Legendäre Propaganda
Man könnte diese Märchenstunde beliebig verlängern, mit der die Einflussnahme auf bestimmte Interessenssphären immer wieder ‚verkleistert‘ wurde. Der Begriff ‚antifaschistischer Schutzwall‘, dessen Hindernisse stets nicht nach außen zum ‚Feind‘, sondern nach innen, zur Bevölkerung, die ‚so‘ geschützt werden musste, gerichtet waren, ist ein sprechendes Symbol ebenso wie die ‚Bruderhilfe‘ bei der Niederschlagung des ‚Prager Frühlings‘ 1968, des Ungarn – Aufstandes 1956 oder des Berliner-Aufstandes 1953. Der Einfallsreichtum der Propagandisten totalitärer Regime in Vergangenheit und Gegenwart ist legendär. Und dennoch bleibt immer die Frage, die uns Marx auch heute lehren kann: Wem dient es? Um wessen Interessen geht es? Wer handelt in welchem Auftrag? Sehr schnell kann sich dann klären, dass hinter den, zumeist selbsternannten ‚Friedenstauben‘, Profiteure der ‚gut aufgestellten‘ Waffenlobby stehen und handfeste Interessen von totalitären Machthabern verfolgen, die nur ein Ziel haben: Ihre Macht zu festigen und zu erweitern und alles zu tun, Länder, in denen Gewaltenteilung herrscht, zu destabilisieren. Sei es durch brutale Macht, sei es durch Fake News, sei es durch Herabsetzung und Spott. Denn das scheint das einzige probate gesellschaftliche Mittel zu sein gegenüber Totalitarismus: Gewaltenteilung, also Legislative-Exekutive-Judikative – und eine freie, öffentliche Meinungsbildung. Denn nichts fürchten Autokraten mehr als Transparenz und als Wahrheit. Dementsprechend sind auch ihre Handlungsmuster der Zersetzung, Desinformation, Herabsetzung, Terror, Zwang und Unterdrückung.
Religionen und ihr Friedenspotential
Was können – übergreifend – Religionen in solch einer Situation tun? Dieser Aspekt soll am Schluss unserer Überlegungen kurz gestreift werden. Das Friedenspotential von Judentum, Christentum und Islam wird vielleicht am deutlichsten in einem Text, den es immer wieder zu bedenken gilt:
„Wer an den Einen Gott glaubt, ist in den Augen des Juden Jakobus ein Jude und in den Augen MOHAMMEDs ein Muslim, und alle Unterschiede zwischen den Religionen heben sich auf vor der Einheit und Einzigkeit Gottes! Also sollte ein ‚Christ‘ gültig beten dürfen in einer jüdischen Synagoge und ein Jude in einer Moschee und ein Muslim in einer Kirche; es bedeutete zweifellos einen der wichtigsten Beiträge zum Frieden zwischen den Religionen und Kulturen, es verwandelte den Glauben an Gott – endlich! – in eine Quelle gütiger Menschlichkeit und Toleranz, und es entspräche ganz und gar der ‚Umkehrung‘, die Jesus in seiner Religion und seinem Volke im Namen des Einen Gottes für alle Menschen erreichen wollte!
Die ‚christliche‘ Bedingung dieser ‚Umkehr‘ besteht allerdings in der Vermenschlichung des Menschen durch die Kraft des Vertrauens; sie gründet in der Personalisierung der Person im Gegenüber der Person Gottes; sie ergibt sich aus der Befreiung von den ‚Gesetzen‘ der Natur durch den absoluten Unterschied Gottes als des ‚Schöpfers‘ zu Seiner Schöpfung.
Ein ‚mystischer‘ Pantheismus, der ‚das Göttliche‘ mit dem ‚All‘ identisch setzte, indem er unter ‚Religion‘ das Aufgeben der Person und das Aufgehen in das All – Eine verstünde, wäre in den Augen Jesu oder Jakobi weder jüdisch noch christlich und in den Augen MOHAMMEDs nicht muslimisch; die Befriedung (‚Islam‘) des Menschen von seiner Daseinsunruhe, die in seinem Personsein selbst gründet, käme nie zustande durch den Bezug zu etwas Apersonalem, Anonymem, grenzenlos Schweigendem, das in allem ‚anwesend‘ ist, ohne ein einziges der Wesen anzureden und als es selber zu meinen; zu einer solchen ‚Gottheit’ wäre weder mit den Worten der Psalmen noch mit den Worten des Vater – unsers, noch mit den Suren des Korans zu beten; eine solche ‚Gottheit‘ zu glauben ist nach der Darlegung des Jakobus eine ‚Befleckung‘ durch Götzendienst.“[1]
Es geht in den Religionen entscheidend um „Befriedung (‚Islam‘) des Menschen von seiner Daseinsunruhe, die in seinem Personsein selbst gründet.“ Wenn das gelingt, dass Menschen sich besser annehmen können, wenn Menschen JA zu sich sagen, wenn Religionen dazu beitragen mit ihrer Botschaft der Annahme, der Hoffnung und der Liebe, dann kann sich auch jenes Friedenspotential entfalten, das diese Welt heute so dringend braucht.
[1] Aus Eugen Drewermann „Die Apostelgeschichte“, Patmos Verlag Ostfildern, 2011, S. 677/ 678