Wenn wir heute auf manche Geschehnisse in Kirche und Gesellschaft blicken, fällt mir spontan eine Begebenheit ein, die nicht nur denkwürdig anmutet. Sie ist auch allen Nachdenkens würdig! Es war anlässlich des 25 –jährigen Bistumsjubiläums des Erzbistums Hamburg im Jahr 2020. Der heute emeritierte Osnabrücker Bischof Franz-Josef Bode kam am Ende seiner Predigt auf eine eindringliche Passage von Eugen Drewermann zu sprechen. Es war fast wie ein Aufschrei: „Zurück nach Galiläa“ und „Raus aus der Sicherheit des Palastes in Jerusalem!“
Beifall
Ich persönlich habe so etwas noch nie erlebt: Der übervolle Hamburger Mariendom lauschte gebannt den Worten von Bischof Bode, der zwei längere Passagen von Pater Alfred Delp- dem von den Nazis umgebrachten Jesuitenpater – gleich zu Beginn seiner Predigt – zitierte und der zum Schluss mit eindringlichen Worten eine längere Passage von Eugen Drewermann dem Kirchenvolk ‚vorhielt‘. Ich zitiere frei aus dem Gedächtnis: „Geht zurück nach Galiläa. Dort werdet ihr ihn sehen.“ Die mahnenden Worte: „Verlasst die Sicherheiten Jerusalems, die festgefügten Mauern, geht dorthin, wo alles begann“ – sie sind mir immer noch im Ohr. Nach einer kurzen Pause geschah das, was ich – wie gesagt – noch nie in dieser Eindringlichkeit erlebt habe in einer Kirche: Es brandete Beifall auf nach dieser Predigt. Der Beifall galt sicher auch dem Prediger. Aber er galt mindestens im gleichen Maße dem, was er uns, dem ‚Kirchenvolk‘ vom Inhalt her zu sagen hatte.
Aufschrei – Herausforderungen
Ist dieser ‚Aufschrei‘ von den Christen gehört worden? Gehört in all den Herausforderungen dieser Zeit, die unseren Glauben massiv bedrängen? Ich denke nur an den seit nunmehr über zwei Jahre andauernden russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, ich denke an das ‚Heilige Land‘, in dem derzeit so viel ‚Unheiliges‘ passiert, ich denke an unser Klima und die Sorglosigkeit in den reichen Industrie-Nationen, ich denke an den Sudan, an Eritrea, an die verfolgten Kurden und Jesiden. Ich denke an all die vielen Verschwörungsmythen, den offenen oder versteckten Hass auf die Menschen jüdischen Glaubens, ich denke an all die vielen, oft hasserfüllten Kommentare in Bezug auf Menschen mit Migrationshintergrund, ich denke an fehlende Integrationsmöglichkeiten und finanzielle Ressourcen, um vor allem die Fluchtursachen wie Kriege zu beenden und mangelnde Perspektiven in den Heimatländern zu beheben. Die Reihe ließe sich beliebig verlängern. Wir sind als Christen nicht ‚in Watte gehüllt‘ und nicht auf einer ‚Insel der Glückseligen‘. Wir sind in diese Welt, in diese Zeit hineingestellt, um in ihr, mit ihr und für sie einen Horizont der Hoffnung aufzuspannen. Um Orientierung zu geben und ein Zeugnis dafür, dass die Welt eine Zukunft hat, die nicht im Machen und Können allein und primär liegt, sondern die Chancen bietet vor allem auch für all jene, die nicht auf der ‚Sonnenseite des Lebens‘ leben. Chancen, die von der Gewissheit leben, dass unsere Existenz im Allerletzten ein großes, ein einzigartiges Geschenk ist, das nicht von ‚Gnaden‘ der Mächtigen, Reichen und Schönen abhängt. Ein Geschenk des Lebens, das allen Menschen gilt, das Würde und unveräußerliche Rechte begründet, das uns eine Ahnung davon vermittelt, dass der Mensch „nicht vom Brot allein lebt“. Eine Ahnung, die etwas von DEM vermitteln kann, den wir – in Ermangelung anderer Begrifflichkeit – schüchtern, vertrauensvoll und liebend GOTT nennen. Eine Ahnung, zu der Christen vor allem der Blick auf das Leben und die Erfahrung im Leben mit Jesus von Nazareth legitimiert und ermutigt.
Wir werden uns heute als Kirche nur ‚bewähren‘, wenn wir Gemeinschaft pflegen. Gemeinschaft auch mit jenen, die mit uns gehen und deren ‚Hilfe‘ oft auch in sehr schonungsloser Kritik besteht. Eine Kritik, die so weit geht, dass eine Trennung unvermeidlich scheint, ja mitunter auch unvermeidlich (geworden) ist. Doch das heißt noch längst nicht, dass im Eigentlichen kein Konsens, keine Gemeinschaft und Gemeinsamkeit mehr besteht. Konkret spreche ich hier von Eugen Drewermann, den der Hildesheimer Bischof Wilmer einen „verkannten Propheten“ nannte und der sich selbst wohl gerne als heutiger Prophet, als ‚neuer Jeremia‘ identifiziert.
„Glaube in Freiheit“, die große ‚Dogmatik‘ Drewermanns fängt mit „Die Stunde des Jeremia“ an. Gleichlautend ist auch der Titel eines Interviewbandes aus dem Jahre 2020. Und immer wieder kommt Drewermann auf den Propheten und Priestersohn aus Anatot zu sprechen, der darauf insistiert, dass Gott nur in den Herzen der Menschen spricht und auch dort nur zu finden ist. Man schaue hierzu nur einmal auf die vielen expliziten Äußerungen und impliziten Anspielungen in Drewermanns Buch zur Jahrtausendwende „Hat der Glaube Hoffnung?“
Kurzformeln
Es gibt von ihm – bei aller – mittlerweile unüberschaubaren, ja, schon rein zahlenmäßig unvergleichbaren Quantität seines Werkes – auch ‚Kurzformeln des Glaubens‘, [Ein Ausdruck, den vor allem Karl Rahner geprägt hat und dessen Umsetzung er besonders für zeitgemäße Verkündigung als unerlässlich einforderte.] die in Prägnanz und Kürze ebenfalls faszinieren:
„Die alles entscheidende Frage lautet: Existieren wir aus Angst oder aus Vertrauen? Dazwischen gestaltet sich alles, – ob wir angstgetrieben durch die Welt laufen oder ob wir die Brüchigkeit dieser Welt durch Vertrauen zu überwinden vermögen…“
Drewermanns existentiell wichtigste Frage lautet daher auch: Wer oder was kann Angst wirklich beruhigen? Christlicher Glaube vertraut auf eine
„letzte Hoffnung über unsere …Selbstentfremdung hinaus“
wie sie uns Jesus vorgelebt hat.
Kommt diese Botschaft heute an? Kann sie überhaupt (noch) ankommen? Gibt es (überhaupt) eine Erwartungshaltung, einen Fragehorizont, in dem die christliche Botschaft als Antwort vernehmbar und verständlich wird? Diese Fragen berühren das Fundament unseres Seins und unseres Glaubens gleichermaßen. Und sie werden nur dann richtig gehört und einzuordnen sein, wenn sie im ‚Konzert‘ anderer Glaubenszeugen ihren eigenen Platz finden. Darum ist die ‚Korrespondenz‘, das ‚Gespräch‘ zwischen Menschen, die den Glauben bezeugen, so wichtig. Es geht dabei nirgends um Ausschließlichkeit, um einen ‚Alleinvertretungsanspruch‘ oder eine besondere Originalität. Kirchlich denken und leben heißt: In Gemeinschaft, in sich ergänzenden Perspektiven sich aufhalten, weil nur so der Blick für das Ganze, für den je größeren Horizont nicht verstellt wird, wie das ‚Gespräch‘ zwischen Karl Rahner, Eugen Drewermann, Hans Urs von Balthasar und Reinhold Schneider erweist.
Modern oder nicht modern
Hüten sollten wir uns zunächst vor dem allzu raschen, oft auch allzu unbedachten Ruf nach ‚Modernität‘ im Glaubensleben, denn:
„Modern sein oder nicht modern sein, das ist eine sehr problematische Frage…. Was wir in der Kirche oft als höchst modern betreiben -, sind die alten, abgelegten Kleider der andern von gestern, die wir dann anziehen und uns darin besonders modern vorkommen.“
Vielleicht ist es gerade der ‚alte‘ Glaube, den wir vom Mann aus Nazareth neu lernen können – und auch sollten! Der Glaube, der uns heute helfen kann in einer Zeit und Welt, die vielfach halt – und orientierungslos geworden zu sein scheint:
„Man kann sich gegen alles das entscheiden, wovon sich Jesus überzeugt gab: dass unser Dasein in den Händen eines <<väterlichen>> Gottes ruhe, der möchte, dass wir sind, und der uns selbst im Tode nicht verlassen werde; – dann aber muss man sich für eine Welt entscheiden ohne Gnade, und man muss dann auch wissen, was man damit auf sich nimmt; oder man wählt für sich den Standpunkt Jesu, dann wird der Mann aus Nazareth zum Grund für eine Menschlichkeit, wie sie sonst nicht zu leben wäre, er wird zum letztgültigen Sprachrohr Gottes, er wird absolut. An Jesus glauben als den Christus, den <<Sohn Gottes>>, ist deshalb eine Aussage über den Glaubenden…“
„Anonyme Christen“
Eugen Drewermann, der in „Strukturen des Bösen“ Vorbehalte gegen Rahners ‚Anonyme Christen‘ anmeldet, weil – so Drewermann dort – Rahner die Angst nicht wirklich beachtet, die den menschlichen Existenzvollzug so nachhaltig beeinflusst, nähert sich mit der nachfolgenden Überlegung Karl Rahners Denken von der göttlichen Zuwendung zu uns Menschen, ja zur gesamten Schöpfung fast bis in‘ s Wörtliche hinein an:
„Die Frage bleibt, wie subjektiv reflex und ausdrücklich dieses Bekenntnis sich darbieten muss, um wahr zu sein. So wie es Leute gibt, die sich den Worten nach als Christen zu erkennen geben, obwohl in Wirklichkeit ihr Leben einem skandalösen Götzendienst gleichkommt, so wird es andere geben, die den Worten nach nicht sagen würden, dass sie Christen seien und die es doch entsprechend dem <<empirischen>> Kriterium in vollem Sinne sind. Wie viele gibt es, die wie selbstverständlich aushalten unter schwierigsten Bedingungen – an der Seite eines schwererkrankten Mannes, eines dement gewordenen Vaters, eines drogenabhängigen Sohnes? Sie fragen nicht lange nach Begründungen und Prinzipien, doch die Treue, die sie leben, hat etwas von Jesu Gleichnis vom barmherzigen Samariter…“
Ich denke, dass diese Vorwürfe nicht nur unberechtigt sind. Sie lassen erkennen, dass Rahner in seinem Denken gründlich missverstanden wird und dieses ‚Urteil‘ ein krasses Fehlurteil ist. Denn „die Wende zum Subjekt, die transzendentale Methode, sie sind begriffliche Übersetzungen, denkerische Formalisierungen mystischer Erfahrungen und einer (besonders von Bonaventuras Ekstasebegriff und der ignatianischen Wahlmystik gespeisten) theologischen Anthropologie. Solange dieses letztlich offenbarungstheologische Fundament verkannt wird, solange nicht der immer wieder von Rahner betonte Weg “post factum“, d. h. im Ausgang von einem vorgängigen Offenbarungsereignis, hinreichend wahrgenommen wird, solange also nicht gewürdigt wird, dass die Tranzendentaltheologie nicht im Sinne Kants nach den notwendigen, allgemeinen, sondern nach den angebotshaft getragenen Voraussetzungen im geschichtlichen Subjekt fragt, dessen transzendentaler Horizont folglich durch die reale Geschichte stets mitbeeinflusst ist…solange ist jenes “Zwei-Stufen-Modell“ nicht zu beseitigen, welches hauptsächlich wesentliche Aporien in der Rahner-Exegese verursacht…geht dieses Modell unter Annahme der Primordialität der Philosophie von einer sekundären, aber eben von Rahner lediglich begrenzt durchführbaren gnadentheologischen Selbstkorrektur seines problematischen erkenntnismetaphysischen und existentialontologischen Begründungsgerüstes aus. In Wahrheit aber entspringen Philosophie und erst recht transzendentale Methodik einer >>symboltheologischen Grunderfahrung<< und sind, in Dienst genommen und begrenzt zugleich, das >>Zweite und nicht das Ursprüngliche<<…Rahners Vernunft ist endlicher, kreatürlicher, fragmentarischer, weil niemals die Wirklichkeit auslotender, notwendigerweise weltzugewandter Art, die die Unendlichkeit Gottes schon deshalb in ihrem unendlichen Vorgriff nicht vergegenständlichend erreichen kann, weil dieses Woraufhin und Wovonher als dessen Möglichkeitsbedingung nicht zugleich dessen Gegenstand sein kann. Beruht folglich die Klarheit menschlichen Bewusstseins auf der sich zuschickenden, gründenden Unbegreiflichkeit des Unendlichen, wachsen demnach Erkenntnis und Konfrontiertsein mit dem Geheimnis im selben Maße, so liegt die Vollendung endlicher Vernunft, ihr Sinn und Wesen, nicht im universalen erkennenden Zugriff, sondern in ihrer bewahrenden Aufhebung in die von sich selbst abspringende Liebe zum Geheimnis Gottes hinein.“ (Bernhard Grümme „Noch ist die Träne nicht weggewischt von jeglichem Angesicht“, Altenberge 1996, S. 553 f)
„Das wahre Kriterium der Gotteserkenntnis kann mithin nur dialektisch zur Sprache gebracht werden. In seiner Studie zur ignatianischen Wahllogik legt Rahner dabei das Gewicht auf die transzendentale Dimension der Erfahrung Gottes, in seinen Betrachtungsbüchern zu den Exerzitien hingegen auf ihre geschichtliche Dimension. Zwischen beiden Dimensionen herrscht jedoch für ihn ein unauflösbares, wechselseitiges Bedingungsverhältnis (vgl. QD 55, 40 ff; Gk 269 ff.) Darauf weist auch K. Fischer hin: „Jesus Christus, Bibel usw. können ja (…) nicht unvermittelt als absolute Kriterien gelten – diese Einsicht begründet ja transzendentales Denken in der Theologie! Vielmehr…kommt die transzendentale Reflexion von diesen konkreten Daten her und setzt sie ständig voraus, macht also gerade nicht die geschichtliche und konkrete Realität unwichtig oder überflüssig…Beides ist daher festzuhalten: Das Leben Jesu wird als das konkrete Urbild der universalen Gnadengegenwart Gottes nur im Heiligen Geist erkannt; andererseits wird die transzendentale Unmittelbarkeit des Heiligen Geistes nur in der Vermittlung durch Jesu Leben erreicht. Der Begriff des produktiven Vorbildes sucht diese Doppelaussage zusammenzuhalten und sieht in einer „schwebenden Mitte“ zwischen der Erfahrung des Geistes und der Begegnung mit dem Leben Jesu den wahren Zugang zu Gott.“ (Nikolaus Schwerdtfeger „Gnade und Welt“, Freiburg-Basel-Wien 1982, S. 339-340)
Alltag – Gnade, Erkenntnisse, Mystik
Karl Rahner buchstabiert die von Drewermann beschriebene ‚Gnade des Alltags‘ gewissermaßen durch in seiner – beinahe schon klassisch zu nennenden – Meditation über die Erfahrung des Geistes:
„Wo eine Verantwortung in Freiheit auch dort noch angenommen und durchgetragen wird, wo sie keinen angebbaren Ausweis an Erfolg und Nutzen mehr hat,
Wo ein Mensch seine letzte Freiheit erfährt und annimmt, die ihm keine irdischen Zwänge nehmen können,
Wo der Sturz in die Finsternis des Todes noch einmal gelassen angenommen wird als Aufgang unbegreiflicher Verheißung,
Wo der bittere, enttäuschende und zerrinnende Alltag heiter gelassen durchgestanden wird…
Wo man sich loslässt, ohne Bedingung, und diese Kapitulation als den wahren Sieg erfährt,
Wo der Mensch alle seine Erkenntnisse und alle seine Fragen dem schweigenden und alles bergenden Geheimnis anvertraut, das mehr geliebt wird als alle unsere uns zu kleinen Herren machenden Einzelerkenntnisse,
Wo wir im Alltag unseren Tod einüben und da so zu leben versuchen, wie wir im Tode zu sterben wünschen, ruhig und gelassen… Das ist Gott und seine befreiende Gnade. Da erfahren wir, was wir Christen den Heiligen Geist Gottes nennen. Da ist die Mystik des Alltags, das Gottfinden in allen Dingen…“
Weniger bildreich und eher theologisch – dogmatisch liest es sich bei Karl Rahner so:
„Schon mancher ist Jesus Christus begegnet, der nicht wusste, dass er denjenigen ergriff, in dessen Tod und Leben er hineinstürzte als in sein seliges, erlöstes Geschick…Gott und Christi Gnade sind anwesend als geheime Essenz aller wählbaren Wirklichkeiten, und darum ist es nicht so leicht, nach etwas liebend zu greifen, ohne mit Gott und Jesus Christus …zu tun zu bekommen. Wer…seine Menschheit annimmt, in schweigender Geduld, besser in Glauben, Hoffnung und Liebe… als das Geheimnis, das sich in das Geheimnis ewiger Liebe birgt…der sagt, auch wenn er es nicht weiß, zu Jesus Christus ja…Wer sein Menschsein ganz annimmt…der hat den Menschensohn angenommen, weil in ihm Gott den Menschen angenommen hat.“
Liebe
Drewermann begründet den Glauben einzig von der Personalität und von der Liebe. Nicht zufällig ist eine kleine Schrift von ihm überschrieben mit
„Nur die Liebe lehrt uns glauben.
Und ein großes Interview, das in gewisser Weise seine Lebens – Bilanz darstellt, in der er versucht, zu beschreiben, was ihn trägt, woran er glaubt – die Unterüberschrift lautet dann ja auch
„Woran ich glaube“,
trägt die Überschrift:
„Wir glauben, weil wir lieben“.
Mir scheint, auch hier berühren sich Drewermann und Rahner thematisch sehr eng, denn 1968, in einem Interview mit einer amerikanischen Zeitschrift, wird Karl Rahner explizit gefragt, ob die Frage der Unsterblichkeit ein zentraler Punkt in seiner Theologie ist. Seine Antwort darauf ist so erhellend wie bezeichnend, denn zunächst sagt Rahner:
„Ich würde mich nicht unbedingt so ausdrücken“.
Er fährt dann fort:
„Es soll vielmehr eindeutig zum Ausdruck kommen, dass der höchste christliche Akt die Liebe zu Gott und zu den Menschen ist, und zwar um ihrer selbst willen, ist – und dies ohne berechnendes Einbeziehen seiner selbst in diesen grundentscheidenden Akt der Liebe. Diese paradoxe Situation ist mit dem Menschsein schlechthin gegeben. Ein Mensch, der zu lieben versteht und weiß, dass er die anderen letztlich um ihrer selbst willen und nicht zum eigenen Vorteil und Vergnügen liebt, wird sich gleichzeitig auch bewusstwerden, dass er im Vollzug der Liebe Freude und Glück findet. Und ich möchte behaupten, dass einer auf ähnliche Art und Weise realisiert, dass er unsterblich ist, wenn er Gott und seinen Mitmenschen sucht …“
Widerspruch
Wie aber ist es mit allen humanistischen ‚Entwürfen‘, beispielsweise mit dem ‚Glauben‘ der Marxisten oder dem ‚Nichtglauben‘ der Agnostiker? Lieben sie nicht auch, obwohl sie nicht an die ‚Unsterblichkeit‘ des Lebens glauben? Karl Rahner sieht diese Problematik sehr genau, doch er entdeckt bei all diesen ‚weltimmanenten‘ und positivistischen Entwürfen einen inneren Widerspruch, den er wie folgt beschreibt:
Selbstverständlich könnte ich mich mit dem Gedanken trösten, dass ich diesen (Beitrag) vielleicht getan habe für zehntausend Generationen nach mir, aber die Geschichte hört doch auf. Durch diese Gedanken wird das Problem nur verschoben, von der Existenz des Einzelnen zu der des anderen. Wenn ich für mich selbst keine Bedeutung habe, dann bekomme ich keine größere Bedeutung, wenn ein anderer Mensch mir nachfolgt, der nur wiederholen kann, dass er sich selbst ohne Bedeutung ist. Warum sollte eine spätere Geschichte wichtiger sein als die meine?“
In einer etwas anderen Version weist Rahner auf eine Paradoxie in der heute gängigen Mentalität hin:
„Der Mensch achtet den Menschen wie nie zuvor; die Integrität des Menschen ist in aller Mund. Aber zur gleichen Zeit gibt es diesen befremdlichen Trend, den Menschen als Produkt einer natürlichen Entwicklung einzustufen, und ihn dahingehend zu interpretieren, dass er keinen größeren Wertanspruch als z.B. eine Ameise, ein Elefant oder Algen erheben könne. Dass der Mensch vom wissenschaftlichen Standpunkt her gesehen, komplizierter sein mag als diese Tiere, erklärt allein noch keineswegs seine einmalige Position, die ihm im heutigen Denken zuerkannt wird.“
Und an anderer Stelle, in der es stärker um die – immer verbleibende – ‚innere Grenze‘ alles Endlichen geht, formuliert Rahner seinen grundsätzlichen Vorbehalt so:
„Selbst wenn diese wirtschaftlichen Systeme alle materiellen Bedürfnisse in einem irdischen Paradies zu befriedigen vermögen, die Menschen würden sich doch umsonst an sie wenden mit Fragen über das tiefere ‚Warum‘?“
Auch hier scheinen Rahner und Drewermann eng beieinander zu sein, weil Drewermann durch all seine voluminösen Werke erweist, dass die Natur, ein Zweckverband oder irgendein anderes Endliches niemals in der Lage sein wird, auch nur eine einzige wesentliche Frage des Menschen tatsächlich zu beantworten. Wenn es um den Menschen als individuelle Person geht, so Drewermann,
„beginnen all die Fragen, auf welche die Natur keine Antworten mehr hat.“
Witz der Weltgeschichte
„Die Verurteilung des Großinquisitors!“ [Hans Urs von Balthasar „Der antirömische Affekt“, Freiburg-Basel-Wien 1974, S. 295 ff] Mit dieser Überschrift als Epilog endet das Buch von Hans Urs von Balthasar „Der antirömische Affekt“. Balthasar bezieht sich in seinem Epilog auf Dostojewskis Legende vom Großinquisitor, der den wiedergekehrten Christus verurteilt. Christus habe der Menschheit ein Geschenk gemacht, von dem er wusste, dass es die Menschen überfordert. Das ist seine Schuld! Der Mensch – so die Meinung des Großinquisitors – kann mit der Freiheit nicht umgehen. Sie ihm zu geben, sie ihm als Geschenk zu machen, ist frevelhaft, besonders deshalb, weil Christus von der Überforderung wusste. Der Mensch muss zu seinem eigenen Schutz domestiziert, geführt und kontrolliert werden. So zumindest die Meinung, nicht nur des legendären Großinquisitors von Dostojewski, sondern aller Machthaber und Despoten zu allen Zeiten und an allen Orten. Sie beanspruchen die Macht und geben vor, es ausschließlich zum Wohle aller Menschen zu tun. Auch die Kirche- und das ist besonders tragisch, weil sie etwas anderes verkünden und verwirklichen soll- ist, wo sie weltliche Macht besaß und besitzt, auch nur allzu anfällig für das süße Gift der Korruption, Rechthaberei und Selbstbeweihräucherung. Darum ließ Balthasar die Geschichte vom Großinquisitor nicht dort enden, wo Dostojewski sie enden ließ. Balthasar führte Dostojewskis Legende weiter. Nach 300 Jahren wird der Großinquisitor selbst vor Gericht stehen. Ihm wird der Prozess gemacht:
„Ganz richtig: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“, aber wir sind es, nicht du, die damit ernst gemacht haben. Und siehst du, der Witz der Weltgeschichte liegt darin, dass wir, nicht du, damit das Gebot deines Christus erfüllen, dass es besser sei, etwas zu leisten, als „Herr, Herr!“ zu sagen. Erst kommt das Handeln, dann, wenn noch Platz dafür ist, der Glaube. Wir Orthopraktiker sind näher beim Evangelium als du, aber glauben atheistisch an Gott…Wir handelnde Christen sind mündig genug, auch unter der Flagge des Marxismus zu segeln und trotzdem wir selber zu sein. Wir können ebenso gut als Jesuiten Nietzscheaner sein und sind es wirklich und mit gutem Gewissen, denn der von dir eingerichtete fromme Verein ist doch lauter bürgerliche Verlogenheit und dekadente Selbsttäuschung einer in ihren Konventionen hoffnungslos eingeschlossenen Gesellschaft.“
Wie endet diese bittere Anklage bei Balthasar? Sie endet eigentlich nicht, sondern bricht ab mit dem Eingeständnis,
„Dass der Erste wirklich an den letzten Platz gelangen kann, ohne seinen Dienst aufzugeben.“
Glauben an die Botschaft
So kann sie enden. Doch muss, ja sollte sie so enden? Auf diese bittere Anklage kann es auch einen Lobpreis geben von Menschen, die mit der Institution Kirche eigentlich nicht so recht vorankommen. Wie beispielsweise Eugen Drewermann, dessen Hymnus auf die Kirche sowohl Schmerz als auch Sehnsucht verrät:
„Dann verbleibt eine nie endende und tief empfundene Dankbarkeit zu jener <<unsichtbaren Kirche>>, die besteht aus all den vielen, die in ihrem Leben und mit ihrem Leben standen und einstanden für ihren Glauben an die Botschaft Jesu, ein Reich Gottes sei möglich inmitten dieser Welt. Durch ihren Einsatz, ihre Unbeirrbarkeit, durch ihren Mut und ihre Treue ging Jesu Zeugnis weiter, und jeder, der es auf sich nimmt, erkennt in ihnen seine wahren Brüder, seine wahren Schwestern wieder. Es gibt sie doch, jene Gemeinschaft <<aller Heiligen>>, der wir in aller Unvollkommenheit, doch voller Sehnsucht bewundernd und bestärkt entgegenwandern, von ihr getragen und verlockt in dem Gebet, das Jesus seine Jünger lehrte: <<Unser Vater, himmlischer du, was du bist, das gelte, was du wirkst, das komme, was du willst, geschehe, wie im Himmel, so auf Erden.>> (Mt 6,9.10)
Chance
Und diese Sehnsucht, dieser Schmerz sind nicht unbegründet ob der vielen Aufgaben, die für die Kirche heute anstehen und gleichzeitig der vielen Anfragen an diese Institution, denen sie sich ausgesetzt sieht und vor denen sie nur allzu gern flüchtet, „bis alle Stürm vorüber geh‘n [Gotteslob Nr. 534 – „Maria, breit den Mantel aus…“]. Und das in einer Situation, in der gleichzeitig mit erlebt wird, dass wir in Bezug auf Glauben, Kirche, Religion alle doch nur ‚irdene Gefäße‘ in den Händen halten, die allzu leicht zu zerbrechen drohen. Dabei – und das ist tragisch und hoffnungsfroh zugleich – ist die Krise der Religion auch ihre große Chance, denn
„Die Religion, speziell die christliche, hat mehr, unendlich mehr und tieferes zu lehren als: ‚Du musst‘, ‚Du sollst‘ und: ‚Du darfst nicht‘. Sie bietet in gewissem Sinne allererst die Grundlage dafür, dass Menschen hinreichend mit sich identisch sind, um tun zu können, was sie moralisch wollen und was sie ethisch sollen.
Hier kommen wir unmittelbar an den Kern jedes Glaubens heran, hier erleben wir ganz direkt den „Ernstfall des Glaubens“, der auch GEBET genannt wird. Man kann Gott nicht zum ‚Objekt‘ machen, auch nicht zum Objekt unseres Denkens, Redens oder Tuns. Gott ist immer Subjekt, er ist DAS Subjekt, der alles subjektive Sein, alle subjektiven Vollzüge wie Vertrauen, Hoffnung, Liebe begründet, trägt und deren Sinn- und Zielpunkt ist. Von daher wird man nie über sondern letztlich nur zu Gott reden und sich zu ihm verhalten können.
„Karl Rahner hat ein weites Verständnis von Gebet. Jede gemachte Erfahrung – des Freudigen und des Schrecklichen – weist über sich hinaus in das Land einer unbegrenzten Hoffnung, darin Gott wohnt. Einem Gesprächspartner antwortet er auf die Frage ‚Beten Sie?“: ‚Ich hoffe, dass ich bete. Sehen Sie, wenn ich in meinem Leben immer wieder in großen und in kleinen Stunden eigentlich merke, wie ich an das unsagbare, heilige, liebende Geheimnis grenze, das wir Gott nennen, und wenn ich mich dem stelle, gleichsam auf dieses Geheimnis mich vertrauend, hoffend und liebend einlasse, wenn ich dieses Geheimnis annehme, dann bete ich – und ich hoffe, dass ich das tue.‘… Beten ist also ein vielfältiges Zeugnis des Glaubens, der sich zur Sprache bringt“.
Darum soll ein Gebetswort Karl Rahners unsere Gedanken zur Kirche beschließen:
„Für die Kirche soll ich beten, mein Gott…Mein Glaube kann doch nur leben, in der Gemeinschaft derer, die zusammen die Heilige Kirche Jesu bilden…Mein Gott, hab Erbarmen mit uns armen engen und sündigen Toren, die wir deine Kirche bilden, hab mit denen Erbarmen, die sich deine Stellvertreter nennen (Ich finde das Wort, ehrlich gestanden, nicht gut, weil sich Gott doch nicht vertreten lassen kann.) Hab Erbarmen mit uns. Ich will nicht zu denen gehören, die die Amtspersonen in der Kirche tadeln und noch mehr als sie dazu beitragen, dass deine Kirche unglaubwürdig erscheint…Man kann auch legitime Hochgesänge auf die heilige Kirche singen. Sie bekennt ja durch alle Zeiten hindurch deine Gnade und dass du über alles, was außer dir gedacht werden kann, unaussprechlich erhaben bist. Und darum hat sie bis zum Ende der Zeiten eine Existenz, auch wenn ich dann das Reich Gottes erwarte, das auch die Kirche aufhebt. Aber auch ein etwas bitterer Klagegesang und ein Flehen um das Erbarmen Gottes für die Kirche preist diese Kirche und dein Erbarmen.“
Kirche – Gesellschaft und Politik
Man könnte über diese bittere Anklage, die dem legendären Großinquisitor in’ s Gesicht geschleudert wird, noch sehr lange diskutieren in Bezug auf die Kirche. Aber diese Legende ist durchaus auszuweiten auf den Bereich der Gesellschaft und Politik. Wir leben heute – Gott sei Dank – in großen Teilen Europas und der Welt – in einer demokratischen Gesellschaft mit parlamentarischer Demokratie, unabhängiger Justiz, mit freier öffentlicher Meinung und einer Marktwirtschaft in sozialstaatsrechtlichen Rahmenbedingungen, die Ausdruck sind für eine grundsätzliche Fürsorge und Verantwortung den einzelnen Mitgliedern dieser Gesellschaft gegenüber. Dass dabei nicht alles optimal verläuft, ja verlaufen kann, dürfte jedermann und jeder Frau einleuchten. Und dass man gegen die ‚Mächtigen‘ aufstehen kann, wird durch diese Gesellschaft, die die freie Meinungsäußerung schützt, ausdrücklich verbürgt.
Und wie wird diese Demokratie geschätzt? Welches Ansehen hat sie? Da gibt es Menschen, die eher skrupellosen, kriegführenden Despoten glauben als gewählten Politikern. Da werden Mythen erdacht von dunklen Mächten und ‚grauen Eminenzen‘, die die ‚Elite‘ bilden oder sie unterstützen, die niemand kennt, die aber alle Geschicke lenken. Und dann DAS KAPITAL. Es sei völlig skrupellos und habe fast sämtliche Menschen in Politik, Wirtschaft, Medien und Militär -um des Profits willen -korrumpiert und manipuliert. Es funktioniert mit unbestechlicher mathematischer Logik: Der Reiche wird reicher, der Arme wird ärmer. So das Narrativ, das offensichtlich sehr gern und immer häufiger ohne Nach- und Hinterfragen geglaubt wird. Ein sehr merkwürdiger Glaube!
In der freien und offenen Gesellschaft kommt solches Tun, das diesem Klischee entspricht, fast immer aber an‘ s ‚Tageslicht‘, so dass die, ja angeblich ‚schon immer alles gewusst haben‘, klammheimlich sich die Hände reiben und mit gewichtiger Miene nun verkünden: „Ja, das haben wir nicht nur gewusst. Das musste ja auch so kommen, sogar ‚gesetzmäßig‘, weil das Kapital immer einen Weg findet, um seinen Profit zu mehren. Und es wird immer willfährige Handlanger finden.“ Und auf der anderen Seite wird noch eins draufgesetzt, weil man dort vorgibt, nicht nur die Mechanismen des Kapitalismus zu kennen. Man meint auch zu wissen um jene, die im Verborgenen die Strippen ziehen und die die Marktmechanismen zu ihren Vorteilen ausnutzen. Die Sündenbocktheorie feiert fröhlich Urständ, und die Suche nach den Schuldigen ist in vollem Gange bei jenen, die dann auch rasch bei DEN Schuldigen sind, womit dem Antisemitismus und Antijudaismus, dem Hass auf alles Fremde und besonders dem Hass auf Menschen jüdischen Glaubens ‚Tür und Tor geöffnet‘ sind.
Nun ist es ein Indiz der offenen Gesellschaft, dass sie weder Missbrauch gänzlich verhindern noch ausschließen kann. So erleben wir auch heute nicht so sehr eine Krise der Demokratie als vielmehr eine Krise der in einem demokratischen Gemeinwesen oft so lustlos, so einfallslos, so z.T. machverliebt agierenden Parteien einerseits, denen es vornehmlich, mehr um Posten oder ‚Pöstchen‘ zu gehen scheint als um das Gemeinwohl. Um Parteien, die ‚in die Jahre gekommen sind, die oft viel zu weit weg sind vom tatsächlichen Leben, die darum auch das Leben oft kaum (mehr) kennen und denen vielfach die Fähigkeit abhandengekommen zu sein scheint, wie Luther es formulieren würde, „dem Volk auf‘ s Maul zu schauen.“ Dabei ist es gerade dieses ‚Volk‘, das ein sehr waches und echtes Gefühl dafür hat, was wahr ist, auch was notwendig ist. Und das sehr genaue und fein justierte ‚Antennen‘ hat für Leerformeln und Tautologien.
In einer offenen Gesellschaft, in der es Gut – und Mutwillige gibt, aber auch Übermütige, Träumer und Visionäre, wird oft auch undifferenziert und zumeist pauschal geurteilt, wenn nicht gar verurteilt. Da ist das Sensorium für komplexe und komplizierte Lebenslagen mitunter abgestumpft und abgenutzt. Und jene, die das beklagen bzw. mehr Sensibilität, mehr Differenzierung beim Einschätzen und Einordnen gesellschaftlicher Prozesse fordern – sie sind dann oft auch selbst wiederum schutzlos gegen Verdächtigungen, gegen Verunglimpfungen, gegen Hass und Hetze. Eine offene Gesellschaft, die eine entsprechende Aufklärung fördert und fordert, ist auf Grund ihrer Struktur dadurch immer auch in Gefahr, von Despoten und Verführern mit Generalverdacht und Pauschalverurteilung überzogen zu werden. Sie können – oft mit Bravour – die ihnen zur Verfügung stehenden Freiräume nutzen, um ihre Saat des Hasses, der Ausgrenzung, der Herabsetzung und der Diskriminierung zu säen. Mit den entsprechenden Ergebnissen, die wir heute in nicht unbeträchtlichem Ausmaß erleben. Und wer diesen fast teuflisch zu nennenden Mechanismus aufdeckt, ist selbst angeblich Teil der ‚Elite‘ oder ein armes, manipuliertes Opfer oder beides. Derjenige, der bescheiden darauf aufmerksam macht, nicht im Besitz dieser ‚unfehlbaren‘ Wahrheit zu sein, läuft dabei nicht selten Gefahr – auch heute und hier in unserem Land, in Europa – als Heuchler, Lügner oder Teil der ‚finsteren Mächte‘ diffamiert zu werden. Karl Rahner sprach in diesem Zusammenhang darum auch von Mut, nämlich von einem „Mut zur Tugend“.
„Zwischen diesen beiden Extremen gibt es eine Mitte; sie ist eine Tugend und diese Tugend scheint mir namenlos zu sein. Diese Mitte, in der die vorausgehende Reflexion auf die Legitimität einer Entscheidung ernst genommen wird, und in der dennoch von dieser Reflexion nicht mehr verlangt wird, als sie leisten kann, deren Problematik ehrlich eingestanden wird und die trotzdem nicht den Mut einer ruhigen und tapferen Entscheidung verhindert, markiert das richtige Selbstverständnis des Menschen, der weder der Gott einer schlechthinnigen und allseitigen Sicherheit und Klarheit ist, noch das Wesen einer leeren Beliebigkeit, in der alles gleich richtig und gleich falsch ist, der Konturen hat, die zu respektieren sind, obwohl sie den Glanz des Göttlichen und Selbstverständlichen nicht haben…Sie ist die Tugend des tätigen Respekts vor der gegenseitigen Bezogenheit und gleichzeitigen Unzurückführbarkeit von Theorie und Praxis, von Erkenntnis und Freiheit. Sie ist die Tugend der Einheit und Verschiedenheit der beiden Größen, ohne die eine oder die andere zugunsten der andern zu opfern.“
Religiöse Dimension
Hinter all dem steckt – ja was eigentlich? Ich glaube, dahinter steckt letztlich eine religiöse Dimension. Das leuchtet ein, wenn man in Anschlag bringt, dass in der Religion mit der alles bestimmenden Wirklichkeit GOTT bezeichnet wird. Es geht – bei all diesen Vorgängen -immer um die alles bestimmende Wirklichkeit, seien es nun Macht, Geld, Luxus, Einfluss, Status oder dergleichen. Sie alle nehmen – obwohl endlich und vergänglich – ‚göttliche‘ Attribute für sich in Anspruch. Und es wird immer wieder zum ‚Aufklärungsdienst‘ der Gläubigen gehören, auf diese falschen Götter- oder Götzenbilder als solche aufmerksam zu machen. Der ‚Thron Gottes‘ muss immer wieder – das scheint mir eine der wesentlichen Aufgaben heute des Glaubens – zumindest auch – zu sein, – freigehalten, mitunter freigekämpft werden. Ausgenommen davon sind auch nicht die Bilder und Begriffe, die uns hineingeleiten können in das uns ermöglichende und umgebende, liebende Geheimnis, das wir uns aber per se nicht ‚untertan machen können.‘ Auch unsere Begriffe und Bilder sind nur Hilfsmittel, Orientierungspunkte. Auch die eigenen Gottesbilder, auch die exaktesten Begriffe und Definitionen – sie sind nicht GOTT! Weil viele Menschen diesen Status nicht aushalten oder akzeptieren, erleben wir immer wieder die Verführung durch neue ‚Götter‘.
Wir werden als Christen, auch als Demokraten, mit dieser so ambivalenten Wirklichkeit leben müssen. Eine andere gibt es nicht. Die Welt ist durchzogen von tragischen Widersprüchen, gegen die kein ‚Großinquisitor‘ etwas ausrichten kann. Wir können immer wieder nur -und zwar täglich neu – versuchen, unseren Teil zur Verbesserung der Situation beizutragen. Das ist unsere, uns von Gott her auferlegte moralische Pflicht, ohne die wir uns selbst verfehlen würden. Dazu gehört auch, aufzuklären und Despoten zu entlarven, die immer wieder neu versuchen – heute mit neuesten und besten technischen medialen Möglichkeiten – den Menschen einzureden, sie lebten nicht „jenseits von Eden“ und das ‚Paradies‘ sei selbstverständlich aus eigenen Kräften – und nur aus eigenen Kräften- herbeizuführen. Was fast immer verschwiegen wird – und was dann leider immer wieder neue, furchtbare und traurige Realität wird, ist der meist unausgesprochene Satz: „Koste es, was es wolle!“ Wir erreichen unser Ziel – um jeden Preis!“ Diese Devise scheint Leitthema von Despoten, Tyrannen und Diktatoren aller Zeiten und an allen Orten zu sein.
Mir fällt an dieser Stelle Reinhold Schneider ein, der angesichts seiner Erfahrung vor über 60 Jahren schrieb:
„Hier ist die Grenze; ich glaube, die schärfste, die sich überhaupt ziehen lässt. Nicht Glaube oder Unglaube formieren die erste Instanz, sondern die Anerkennung des Tragischen; sie geht dem Glauben voraus. Das Christentum ist nur fassbar in einer unheilbaren, aber erlösbaren Welt. Im Verständnis des Tragischen als eines unaufhebbaren Daseins-Widerspruchs liegt eine wesentliche Kontinuität unserer Überlieferung; in seiner Leugnung ein nicht zu verschmerzender Bruch.“
Christliche Wahrheit
Die Tragik als Gegenspieler des Glaubens. Ja und nein, denn nicht die Tragik, sondern der Glaube hat das letzte Wort über die menschliche Existenz. Um es so zu sagen:
„Ob das Christentum der heutigen…Menschheit sich als die Antwort Gottes auf ihre neuen, noch nie so gehörten Fragen glaubhaft machen kann, wird entscheidend von der Tiefe abhängen, in der die Christen ihre christliche Wahrheit verstehen, leben und lieben.“
Was er darunter konkret versteht, formuliert Hans Urs von Balthasar so:
„Das Tiefste am Christentum ist die Liebe Gottes zur Erde. Dass Gott in seinem Himmel reich ist, wissen andere Religionen auch. Dass er mit seinen Geschöpfen zusammen arm sein wollte, dass er in seinem Himmel an seiner Welt leiden wollte, ja gelitten hat und durch seine Menschwerdung sich instand setzte, dies sein Leiden der Liebe seinen Geschöpfen zu beweisen: das ist das Unerhörte bisher.“
Tat und Wort
Diese „christliche Wahrheit“ – kann man sie wirklich „verstehen, leben und lieben“? Es wird viele „Kurzformeln des Glaubens“ (Karl Rahner) geben, die versuchen, den Glauben „auf den Begriff zu bringen“. Wie sollte es auch anders sein, wenn wir als Menschen miteinander umgehen? Wenn wir uns gegenseitig mitteilen – durch Tat u n d Wort – was uns ausmacht, was für uns bedeutsam ist, welches unser Fundament ist, unsere Lebensoption. Wie sollte es anders sein, wenn Glaube eben keine intellektuelle ‚Formel‘ ist, sondern ein personaler Vorgang, der uns existentiell ein- und anfordert und der „intellektuelle Redlichkeit“ sowohl begründet als auch fordert? Karl Rahner bringt für mich das Wesen des Christentums begrifflich ‚auf den Punkt‘, so dass es die vorangegangenen Überlegungen in einer existentiellen Frage zusammenfasst, der niemand ausweichen kann, weil das Leben sie stellt:
„Wenn das Christentum die mit absolutem Optimismus geschehende Inbesitznahme des Geheimnisses des Menschen ist, welchen Grund sollte ich dann haben, kein Christ zu sein?“