Gott meines Lebens

„Herr, wie wird mein Geist ratlos, wenn ich von dir zu dir rede! Wie kann ich dich anders nennen als den Gott meines Lebens? Aber was habe ich damit gesagt, wenn doch kein Name dich nennt und ich darum immer versucht bin, von dir mich fortzuschleichen zu den Dingen, die begreiflicher als du, meinem Herzen heimlicher sind als deine Unheimlichkeit? Doch wohin sollte ich gehen? Wäre die enge Hütte mit ihren kleinen vertrauten Dingen, wäre das irdische Leben mit seinen großen Freuden und Schmerzen mir Heimat, wäre nicht all das umschlossen von deinen fernen Unendlichkeiten? Ist die Erde mir Heimat, wenn nicht dein ferner Himmel über ihr steht? Ja, selbst wenn ich mich mit dem bescheiden wollte, was heute so manche als den Sinn ihres Lebens verkünden, wenn ich trotzig entschlossen meine Endlichkeit erkennen und mich zu ihr allein bekennen wollte, ich könnte diese Endlichkeit nur darum wachen Geistes erkennen, nur darum als mein einziges Schicksal auf mich nehmen, weil ich immer schon zuvor hinausgeblickt habe in grenzenlose Fernen, an deren verschwimmenden Horizonten die Unendlichkeiten deines Lebens beginnen. Denn alle meine Endlichkeit versänke in ihrer eigenen dumpfen, sich selbst verborgenen Enge, sie könnte nicht zum sehnenden Schmerz und nicht zum entschlossenen Sichabfinden werden, hätte nicht der wissende Geist sich immer schon hinausgeschwungen über seine eigene Endlichkeit, hinaus in die lautlosen Weiten, die du, die schweigende Unendlichkeit, erfüllst.

Wohin also soll ich fliehen vor dir, wenn alle Sehnsucht nach dem Grenzenlosen und aller Mut zu meiner Endlichkeit dich bekennt? … Was habe ich also anders dir von dir zu sagen, als dass du die Unendlichkeit bist, in der allein ich, Mensch der Endlichkeit, zu leben vermag? Und wenn ich das von dir sage, dann habe ich mir meinen wahren Namen gegeben, den ich im Psalter Davids immer bete: tuus sum ego: Ich bin der, der sich nicht selbst gehört, sondern dir. Mehr weiß ich nicht von mir, mehr nicht von dir – Du -, Gott meines Lebens, Unendlichkeit meiner Endlichkeit. Was hast du mir angetan, wie hast du mich geschaffen, wenn ich von dir und mir nur weiß, dass du das ewige Geheimnis meines Lebens bist?“ 1

Bild zeigt das Logo "Norddeutscher Rahner Kreis". Text: Textarbeit.

Fragestellungen für die Textarbeit 

Was sagt dieser Text aus?
Was rührt er bei mir persönlich an, was löst er aus?
Was sagt er uns heute?
Wie kann ich seine „Weisheit“ vermitteln?

Was sagt dieser Text aus? 

Der Text sagt etwas aus über den Beter Karl Rahner, der auch dich und mich zum Beten hinführen will. Denn Rahner betreibt Theologie aus der „Gestimmtheit des Beters“ heraus. Das ist ein Begriff, den er selbst geprägt hat. Einer seiner Interpreten beschreibt ihn so: Die Gestimmtheit des Beters

„erreicht ihren eigentlichen Logos nicht in der begrifflichen Kommunikation über Gott, sondern in der preisenden Anbetung Gottes. Theologie will hinführen zu dieser theoretisch-praktischen Haltung des Gebetes und will selber Teil dieses heilshaften Grundvollzuges christlicher Existenz sein.“ 2

Rahners theologisches Anliegen ist es, zu verstehen und im Leben zu praktizieren, dass man nie über Gott, wie über einen Gegenstand reden kann. Die Gottesbeziehung ist personal, d.h. man kann eigentlich nur zu Gott sprechen.  Dabei ist sich Rahner allerdings des ‚Gefälles‘ in dieser Beziehung bewusst: Im Gebet kann ich nicht mit Gott ‚auf Augenhöhe‘ von mir aus sprechen. 

„Ich bin der, der sich nicht selbst gehört, sondern dir. Mehr weiß ich nicht von mir, mehr nicht von dir – Du -, Gott meines Lebens, Unendlichkeit meiner Endlichkeit.“ 

Aber Gott will keine Marionetten, sondern Personen, die IHM in Freiheit begegnen. Unser Leben, unser Tun – und das ist das eigentliche Gebet – geschieht immer in seiner ‚Gnade‘. Seine Zuwendung zu uns ermöglicht es uns, Gott zu lieben. Ihn gewissermaßen in SEINER Liebe (wieder)zu lieben. Wir wissen darum auch von Gott eigentlich nur eines: Dass wir ohne ihn nicht sein können. Und das erfahren wir täglich in all unserem Angewiesensein. Das beginnt bei den alltäglichsten Dingen, das vollzieht sich in der Partnerschaft, in der Freundschaft, in allem, was wir tun – und auch lassen: Alles ist endlich, alles ist vergänglich, alles ist irgendwie fragil und nicht verlässlich. Und dennoch brauche ich einen Grund, der trägt, der immer und überall trägt.

„Rahner ist der Theologe der Universalität der Gnade. Man wird diesen Ehrentitel auch anderen Theologen des 20. Jahrhunderts geben können…Aber der Rahnersche Duktus ist gerade darin ganz spezifisch, dass er sich diesem großen Thema, dem universalen Heilswillen Gottes…in der Banalität des Alltags widmet … Dass die Tiefe des Menschlichen und des Christlichen nicht voneinander zu trennen sind, ist für Rahner eine theologische Kernaussage.“ 3

Was rührt er bei mir persönlich an, was löst er aus? 

Diesen Grund, der bedingungslos trägt, der meine ‚absolute Kontingenz‘ beruhigt, ihn suche ich. Er ist auch so recht Inhalt und ‚Gegenstand‘ der Psalmengebete, die ich so sehr liebe. 4 Und ich erlebe beglückt, dass ich IHN nur deshalb so sehnsuchtsvoll suche, weil ER mich (längst) gefunden hat. Weil er mich gerufen hat, mich in sein Herz geschlossen und in seinen Arm genommen hat – nur darum kann ich auf die Suche nach IHM gehen. Ansonsten wäre ich ‚blind‘, gefangen in den unbewussten Zwängen, Instinkten und Trieben animalischen Lebens, wie wir es aus der Tier- und Pflanzenwelt kennen.

Die wunderbaren Bildworte, die auch die Poesie Karl Rahners illustrieren, zeigen zudem den Ursprung des Textes an: Nach seiner großen Dissertation „Geist in Welt“ (1936) hat ein Innsbrucker Verlag Rahner die Veröffentlichung nur zugesagt, wenn gleichzeitig ein leichter lesbares Werk von ihm erscheint. Daraufhin veröffentlichte Rahner das Buch „Worte ins Schweigen“ im Jahr 1938. Es ist somit sein erstes Buch – und es ist kein Zufall, dass es ein Gebetbuch ist, 5 („Geist in Welt“ erschien erst ein Jahr später, im Jahr 1939) denn Rahners Theologie ist eine Theologie des Gebetes. Er theologisierte als Priester, Ordensmann, Seelsorger und ‚Exerzitienmeister‘ immer „aus der Gestimmtheit des Beters“, zu der er besonders in den Exerzitien anleiten und hinführen wollte.  

Der Text zeigt mir auch, dass die Fragen und Anfragen der Zeit mich etwas angehen. Dass sie meinen Glauben in Frage stellen, dass mein Glauben in meinem Leben sich ereignen muss. Rahner suchte den Dialog mit allen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen, vor allem mit Natur- und Gesellschaftswissenschaften, mit Akademikern ebenso wie mit „dem Mann und der Frau auf der Straße“. Dieses Gebet zeigt seinen Umgang mit dem Existentialismus seiner Zeit. Er versucht darin, dessen Anliegen und Anfragen aufzunehmen und sie mit dem christlichen Glauben zu vermitteln: 

 „Ja, selbst wenn ich mich mit dem bescheiden wollte, was heute so manche als den Sinn ihres Lebens verkünden, wenn ich trotzig entschlossen meine Endlichkeit erkennen und mich zu ihr allein bekennen wollte, ich könnte diese Endlichkeit nur darum wachen Geistes erkennen, nur darum als mein einziges Schicksal auf mich nehmen, weil ich immer schon zuvor hinausgeblickt habe in grenzenlose Fernen, an deren verschwimmenden Horizonten die Unendlichkeiten deines Lebens beginnen. Denn alle meine Endlichkeit versänke in ihrer eigenen dumpfen, sich selbst verborgenen Enge, sie könnte nicht zum sehnenden Schmerz und nicht zum entschlossenen Sichabfinden werden, hätte nicht der wissende Geist sich immer schon hinausgeschwungen über seine eigene Endlichkeit.“ 

Was sagt er uns heute?

Mir sagt der Text, dass ich mich nicht ‚verkriechen‘ kann und darf: Ich lebe nicht im „Haus voll Glorie“, sondern muss den Zugwind der pilgernden Existenz im Glauben aushalten und ihm standhalten, denn mir steht nur ein Zelt zur Verfügung. Ein „Zelt existentiellen Lebens“, das ich immer wieder zusammenfalten und neu aufbauen muss, weil ich hier keine ‚bleibende Stätte habe‘. Zum ‚Zugwind‘ heute gehören Gier, Gleichgültigkeit, Konsum und Mediensucht, die wie Fetische unser Leben bestimmen können und den Ausblick auf IHN, der unser eigentliches Leben ist, erschweren, ja mitunter irreparabel zerstören. Die „Schleifung der Bastionen“ 6 ist nicht in erster Linie eine institutionelle Frage. Sie ist vielmehr eine Frage existentiellen Engagements. Darum sagt mir der Text auch, dass ich sensibel und offen sein muss für all die Anfragen heute, die sich auch in Gleichgültigkeit und Hemmungslosigkeit und oft in versteckter Form zeigen(können). 

Wie kann ich seine „Weisheit“ vermitteln?

Vermitteln kann ich Rahners Weisheit nur, wenn ich in die „Gestimmtheit des Beters“ eintrete. Wenn ich mir bewusst bin und bewusst bleibe, dass ich keinen geistlichen Höchstleistungssport im Gebet betreiben muss. Denn ER IST ES, DER IN MIR BETET. Das muss ich wahrnehmen – und zulassen. Daraus folgt auch: Ich darf meiner Sehnsucht, meiner Hoffnung trauen. Ich darf, ja ich soll mich so annehmen, wie ich bin. Ich darf lieben – meine(n) Nächsten und auch mich – weil ER MICH IMMER SCHON LIEBT. Sonst würde ich gar nicht auf den Gedanken kommen, dass es „mehr als alles gibt“. 7


  1. „Beten mit Karl Rahner“, Band 2 „Gebete des Lebens“, Freiburg-Basel-Wien 2004, Herausgegeben von Albert Raffelt, mir einer Einführung von Karl Kardinal Lehmann, S. 26 f –   auch in SW 7, S. 5 – ursprünglich aus „Worte ins Schweigen“, Innsbruck-Leipzig 1938 (!), dort aus „Gott meines Lebens“, S. 12 f ↩︎
  2. Ralf Miggelbrink „Ekstatische Gottesliebe im tätigen Weltbezug“, Altenberge 1989, S. 284 ↩︎
  3. Albert Raffelt in „Von der Gnade des Alltags“, Freiburg-Basel-Wien 2006, S. 81-86 ↩︎
  4. Die 4 Bände der Psalmenauslegung von Erich Zenger sind ein wahrer Schatz existentiellen Glaubens und Betens. ↩︎
  5. Rahners erstes Buch ist ein Gebetbuch. Sein letzter, von ihm zur Veröffentlichung vorbereiteter Text, ist auch ein Gebet, das „Gebet um die Vereinigung der Christen.“ Lehmann schrieb dazu, dass es „auf seine Weise ein Vermächtnis darstellt.“ Wenn wir an die Ökumene denken, spüren wir auch hier, wie sehr wir noch hinten dran sind, Rahners Vermächtnis im ökumenischen Miteinander einzulösen.  ↩︎
  6. Buchtitel von Hans Urs von Balthasar ↩︎
  7. Anlehnung an den Buchtitel von Dorothee Sölle: „Es muss doch mehr als alles geben.“  ↩︎
Bild von Tep Ro auf Pixabay

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