Glaubensnot und Glaubenschance
Wo kommt Gott in meinem Leben vor? Kommt er überhaupt noch vor? Sind nicht längst alle Lebensvollzüge vollständig säkularisiert, so dass er weder einen Platz dort hat noch haben kann? Ist Gott nicht überflüssig (geworden)? Ist er eine nicht mehr benötigte und untaugliche Hypothese, die längst ausgedient hat? Ist er begrifflich ein Unding, weil es keinen ‚Ort‘ und kein Kriterium gibt, von wo aus er überhaupt sinnvoll bestimmt werden könnte? Ist die Chiffre ‚Gott‘ nicht völlig irrelevant, nichtssagend geworden, ein Relikt aus längst vergangener Zeit, das in‘ s Museum gehört?
Das sind Fragen, die sich jedem wachen Gläubigen stellen, wenn er seinen Glauben reflektiert und wenn er über seinen Glauben in ‚intellektueller Redlichkeit‘ Rechenschaft ablegt. Und sie ist not-wendig im buchstäblichen Sinn, diese Rechenschaft, denn entweder ist der Glaube – Glaube hier im weitesten Sinn gefasst als
„die positive, bedingungslose Annahme der eigenen Existenz als sinnvoll und offen auf eine endgültige Erfüllung, die wir Gott nennen.“ 1
relevant für das Leben oder er ist eine Fata Morgana oder ‚Opium des Volkes‘ (Karl Marx). Gerade in der Frage der Glaubensweitergabe an die nachfolgenden Generationen gibt es hier kein Vorbeischielen oder Vorbeidrücken. Hier ist eine klare Entscheidung verlangt, kein ‚Sowohl als auch‘, sondern ein ‚Entweder – Oder‘. Jesus hat dies in wunderbaren Bildern beschrieben: Wenn es eine kostbare Perle gibt, die im Acker verborgen liegt, dann gibt es kein Herumlavieren. Dann wird alles darangesetzt, diesen Schatz auch zu bekommen. Wenn der Glaube im Leben trägt, wenn er für ein ‚Leben in Fülle‘ unersetzbar ist – dann ist er lebens-notwendig. Dann ist tatsächlich alles daran zu setzen, ein Leben aus dem Glauben heraus zu führen. Dann ist die Glaubensweitergabe auch das Wichtigste, was wir unseren Kindern und unseren ‚ungläubigen Verwandten‘ 2 schuldig sind.
„Aber wo liegt der ‚Anknüpfungspunkt‘?“
Mich erschüttert es jedes Mal auf’ s Neue, wenn ich im abschließenden Epilog der monumentalen Trilogie Hans Urs von Balthasars (1905-1988), die 15 Hauptbände umfasst, gleich zu Beginn folgende Zeilen lese:
„Man soll den Menschen, heißt es, dort abholen, wo er steht. ‚In Amerika hat ein Jugendlicher im Alter von siebzehn Jahren im Durchschnitt fünfzehntausend Stunden, also fast zwei volle Jahre vor dem Fernseher zugebracht.‘ Bei uns sitzen nach einer neueren Studie schon die Drei-bis Sechsjährigen in der Woche durchschnittlich fünf bis sechs Stunden vor der Mattscheibe, die Zehn-bis Dreizehnjährigen sogar mehr als zwölf Stunden… ‚Ob wir auch im Zeitalter der Medien ein kulturelles Erbe (und einen religiösen Glauben) weitergeben, oder ob uns am Ende mit der verlorenen Sprache auch das Hören und Sehen vergeht‘, fragt Hans Maier mit Recht. Was das für Ruinen sind, die dort (wider ihren Willen) ‚abgeholt‘ werden sollten, fragen sich die meisten Religionslehrer heute, ebenfalls mit Recht. Ein Buschmissionar hat es relativ leicht: Er begegnet einer vielleicht sehr primitiven ‚anima naturaliter christiana‘; er könnte, was hier in Theologenchinesisch vorgetragen wird, leicht in die allereinfachste Sprache übersetzen. Aber wo liegt der ‚Anknüpfungspunkt‘ angesichts der ‚anima technica vacua‘? Ich weiß es nicht. Bisschen Tischchenrücken, bisschen Zen, bisschen Befreiungstheologie: schon viel.
Mehr als eine ins Meer geworfene Flasche kann und will dieses kleine Stück nicht sein; dass sie irgendwo landet und einer sie findet, wäre ein Wunder. Aber zuweilen geschehen auch solche.“ 3
Balthasar hat den 15 Hauptbänden seines gewaltigen Hauptwerkes diesen Epilog noch ein Jahr vor seinem Tod beigefügt. Seine Begründung hierfür ist einleuchtend:
„Dieser Epilog zur auf fünfzehn Bände angeschwollenen Trilogie ‚Ästhetik‘, ‚Theodramatik‘ und ‚Theologik‘ ist es dem ermüdeten Leser schuldig, so etwas wie einen Durchblick durch das Unternehmen zu bieten.“ 4
Doch am Ende eines arbeitsreichen Lebens über Menschen zu sagen „was das für Ruinen sind?“ ist melancholisch und bitter. Oder wenn beklagt wird, dass es kaum mehr einen ‚Anknüpfungspunkt‘ für die Glaubensbotschaft gibt. Es ist irritierend und verstörend, wenn jemand, der sein Leben der Kirche und ihrem Sendungsauftrag gewidmet hat, mit über 80 Jahren feststellt, dass ein ‚Buschmissionar‘ es wohl einfach(er) hat als jemand, der in unserem säkularisierten Europa sich um die Glaubensvermittlung mühte oder müht. Es ist frustrierend, wenn man das Fazit Balthasars auf sich wirken lässt:
„Mehr als eine ins Meer geworfene Flasche kann und will dieses kleine Stück nicht sein; dass sie irgendwo landet und einer sie findet, wäre ein Wunder. Aber zuweilen geschehen auch solche.“
Ist unsere Wahrnehmung getrübt?
Und mir drängt sich die Frage auf: Wie würde Balthasars Urteil heute ausfallen, im Zeitalter von Internet und Handy, von Digitalisierung in einem Ausmaß, dass zu seiner Zeit, also Ende des 20. Jahrhunderts, auch in Umrissen nicht zu ahnen war. Ich bin Hans Urs von Balthasar nicht nur dankbar dafür, dass er seine Trilogie vollendet hat mitsamt dem Epilog. Ich danke ihm auch dafür, dass er am Ende seines Vorwortes eine, wenn auch kleine Hoffnungsperspektive doch in Aussicht stellt. Mich erinnert sein Votum an Reinhold Schneider (1903-1958), der in seinem letzten Werk „Winter in Wien“ davon sprach, dass unserer Zeit heute „extreme Existenzen“ fehlen und dass Gegenwart und Zukunft nicht auf sie werden verzichten können. Schneider verglich deren Bedeutung für die menschliche Gemeinschaft mit ‚Spurenelementen im menschlichen Körper‘, der ohne sie krank und elend würde. Es kommt nicht auf die ‚Masse‘, auf das rein Quantitative an. Der Kirche ist nie die große Anzahl verheißen worden. Jesu Beispiele vom Sauerteig, vom Salz, vom Nadelöhr und dem schmalen Weg ins Himmelreich deuten das Gegenteil an.
Und doch sprach das II. Vatikanische Konzil vom allgemeinen Heilswillen Gottes, der überall wirksam sein kann. Von daher scheint mir, dass die Glaubensverkündigung heute und morgen noch eine andere Aufgabe zu erledigen hat, die über alles Herkömmliche hinausgeht. Der militante Atheismus scheint abgelöst worden zu sein von einer Haltung der Gleichgültigkeit und Irrelevanz der Gottesfrage gegenüber. Buchtitel wie „Gottlos glücklich“ (Philipp Möller), „Was fehlt, wenn Gott fehlt?“ (Hg. Jan Heiner Tück) oder „Woran glaubt, wer nicht glaubt?“ (Carlo Maria Martini-Umberto Eco) weisen in diese Richtung.
Gott kommt scheinbar nicht nur nicht vor. Er sollte auch nicht (mehr) vorkommen, denn er würde ja doch nur stören. Weil? Ja, weil es doch ohne ihn ganz gut geht. Was soll er im Betrieb, in der Behörde, an der Universität, im Arbeitsleben oder im privaten Bereich, wenn es doch ganz prima ohne ihn geht. Er ist nicht nur überflüssig, er ist unbrauchbar (geworden). So scheint es. Und können, dürfen, sollen wir Gott überhaupt in irgendeiner Weise ‚gebrauchen‘? Warnt nicht Karl Rahner eindringlich in einem vielbeachteten Aufsatz vor der „unverbrauchbaren Transzendenz Gottes“? 5
Die eigentliche Frage scheint mir darum doch die zu sein: Wie kann Glaube heute vermittelt werden, wo es doch anscheinend ohne ihn ganz gut zu gehen scheint. Eugen Drewermann hat darauf einen wichtigen Fingerzeig gegeben, in welche Richtung eine Lösung oder Antwort dieser Frage gefunden werden kann.
„Wenn jemand verzweifelt ist, fragt er sich, warum er überhaupt lebt; wenn jemand gelangweilt ist, fragt er sich, was für ein Sinn sein Leben haben soll. Nur wenn wir sehr glücklich sind, stellen sich derartige Fragen scheinbar gar nicht mehr, sondern beantworten sich von innen her wie von selbst, durch ein Gefühl der Sicherheit und der Geborgenheit im Dasein.“ 6
Wie kann man damit umgehen, wenn sich derartige Fragen „von innen her“, quasi wie von selbst beantworten? Genügen etwa das „Gefühl der Sicherheit und der Geborgenheit im Dasein“ den ‚Gläubigen‘ nicht? Greift diese ‚Antwort‘ letztlich doch zu kurz bzw. ist gar keine Antwort, weil sie- ganz im Gegenteil – sogar der Erweis ist für die Überflüssigkeit der Glaubensvermittlung? Bevor wir auf diese grundlegende Infragestellung des Glaubens und seiner Vermittlung antworten, müssen wir einen Zwischenschritt tun.
Ein notwendiger Zwischenschritt – das aktive Hören
Es gibt eine berührende Aussage eines Psychotherapeuten (!), warum er in Glaubensfragen nach einem kurzen Gespräch mit Karl Rahner über Medizin und Tiefenpsychologie
„‘rahnersüchtig‘ geworden (war), wie nur je ein Morphinist nach der ersten Spritze süchtig werden kann.“ 7
Mir scheint diese kleine Anekdote auf etwas hinzuweisen, auf das es heute in besonderem Maße bei der Glaubensvermittlung ankommt. Ich meine eine größere Sensibilität und Aufmerksamkeit dafür, dass in den alltäglichsten Vollzügen und Begebenheiten, oft unter völlig anderen Etiketten, sich das ‚abspielt‘, was Gläubige in einer kirchlichen Binnensprache als Gnade, als Erlösung, als Glaube bezeichnen. Damit ist keiner billigen Vereinnahmung das Wort geredet. Wohl aber sollten wir wachsam und sensibel sein gegenüber einem billigen und engen ‚Heilsegoismus‘. Wir sollten in die Begegnung mit unseren Mitmenschen jene Wertschätzung einbringen, die ihnen zukommt, weil jeder Mensch durch Gott angesprochen wird. Sie sind darum immer Subjekte, nie Objekte des Glaubens! Kirche wird darum immer nie nur Lehrende, sondern – in einem echten Dialog – immer auch Lernende sein (müssen).
Dafür ist vor allem eine entsprechende Haltung erforderlich. Albert Görres beschreibt, wie Karl Rahner in solchen Begegnungen und Gesprächen wahrgenommen wurde.
„Wie kommt es, dass gerade Naturwissenschaftler und Mediziner es der Mühe wert finden, sich auf seine transzendental-analytischen Senkrechtstarts einzulassen? Vielleicht liegt eine Antwort in seinem Vorzugswort ‚unbefangen‘. Vielleicht geht es vielen in ihren Gebieten wie mir in der Psychotherapie und Tiefenpsychologie: Das ist einer, der zuhört und in einzigartiger Weise versteht. Die Sache des anderen wird ihm wichtig. Und er schaut alles an wie das Kind im Märchen…So gelingt es ihm, die wesentlichen Funde der modernen Psychologie in die theologische Anthropologie so einzusetzen, dass sie anwachsen…Rahner ist so tief im Gespräch mit jedermann, dass er die Wurzeln spürt, mit denen alltägliche Glaubensprobleme in Zusammenhänge führen, die nur in einer Sondierung aller Wirklichkeitsbereiche des Kosmos und der Geschichte ihr abweisendes Schweigen aufgeben…Er versucht nicht, zu widerlegen oder zu korrigieren, sondern das fremde Denken und Streben dahin zu verfolgen, wo es seinen Wahrheitsschwerpunkt hat, seine Erfahrungsmitte. Von dorther sucht er bei jedem einzelnen dessen Offenheit zum Ganzen, die jede weltliche Einzelerfahrung und jedes einzelne Subjekt mit sich trägt, …wichtig ist mir, dass ich nach jedem Gespräch mit Rahner meine eigenen Fragen, die fachlichen, die menschlichen, die religiösen und mich selber besser verstehen konnte. Überdies aber verstehe ich tiefer, worauf er mit seiner Theologie hinaus will und wie alles mit allem zusammenhängt – in der Wissenschaft und im Glauben.
Karl Rahner hat für unzählige strapazierte Köpfe und wunde Herzen, für Legionen von Kirchengeschädigten und Gottesenttäuschten die helfenden Worte gefunden, die ihnen den verschütteten Zugang zu dem verlorenen Gott, zu seiner Schöpfung voller Fürchterlichkeiten, zur blutigen Geschichte und zu seinem quälenden Evangelium, zu seiner lastenden Kirche wieder geöffnet und liebgemacht haben.“ 8
Erlösung zeigt sich (auch) im freudigen, heiteren und naiv unschuldigen Gemüt
Wie kann er aussehen, der Glaube, das Erlöstsein außerhalb von Institutionen, aber auch außerhalb jeglicher billigen Vereinnahmung? Wie kann das Gespräch mit dem Zeitgenossen aussehen, der durchaus ohne Gott nicht nur meint, glücklich zu sein, sondern der ohne expliziten Glaubensbezug tatsächlich glücklich ist. Das ist doch jener Mensch, mit dem wir es heute zu tun haben, der Mensch der Rationalität, der Effektivität, der nüchternen Sachlichkeit und Analytik, dem so mancher kirchlicher Vollzug wie Folklore erscheint oder mythologisches Überbleibsel einer längst vergangenen Epoche.
Nach diesem Plädoyer von Albert Görres für den Glaubenszeugen und ‚Glaubenshelfer‘ 9 Karl Rahner empfiehlt es sich, zu schauen, ob Karl Rahner diese ‚Glaubensgestalt‘, die ja auch schon zu seiner Zeit greifbar war, nicht nur wahrgenommen hat, sondern wie er sich zu ihr verhalten hat. Und da gibt es aus der Spätzeit seines Lebens und Werkes eine interessante Aussage, die für sich spricht und keines weiteren Kommentars bedarf.
„Wenn jemand in einer Art naiver Unschuldigkeit meinen würde, er lebe eigentlich von vornherein in einer liebenden Einheit mit Gott, ja es müsse eher Gott als der Mensch angesichts all der absurden Finsternis der Welt gerechtfertigt werden, es sei, was man Schuld und Sünde nenne, in der Welt eher als Reibungserscheinung und unvermeidlicher Umweg einer Entwicklung zu interpretieren in einer Welt, die eben noch im Werden ist, dann braucht eine solche Mentalität nicht von vornherein in einer katholischen Theologie als unchristlich abgelehnt zu werden. In dieser Theologie wäre ein solcher Mensch so heiteren und naiv unschuldigen Gemütes eher zu interpretieren als einer, der durch die Gnade Gottes, die seine höllischen Möglichkeiten von vornherein überholt hat, schon in diese harmlose Unschuldigkeit hineinversetzt ist.“ 10
„Freilich impliziert dieses wahre christliche Verständnis auch, dass diese Erlösung den Menschen nicht von sich, sondern zu sich selbst erlöst, wobei freilich dieses positive Zusichselber – Erlöstsein das Kommen zu Gott selbst in einer ekstatischen Liebe ist…Man müsste nur hinzufügen, dass dieses so verstandene und vollzogene Selbstverständnis des Menschen noch einmal unterfangen ist (explizit oder implizit) durch das frei angenommene Wissen des Menschen von der Setzung des absoluten Gottes, also vollzogen wird als Geschenk dieses Gottes durch Schöpfung und Gnade.“ 11
- Karl Rahner-Karl – Heinz Weger „Was sollen wir noch glauben? – Freiburg-Basel-Wien 1979, S.40 f ↩︎
- Ein Wort aus dem Aufsatz Karl Rahners „Der Christ und seine ungläubigen Verwandten“, Sämtliche Werke 10, S. S. 274 ff ↩︎
- Hans Urs von Balthasar „Epilog“, Einsiedeln-Trier 1987, S. 8 ↩︎
- Hans Urs von Balthasar „Epilog“, Einsiedeln-Trier 1987, S. 7 ↩︎
- „Die unverbrauchbare Transzendenz Gottes und unsere Sorge um die Zukunft“ – Sämtliche Werke 29 und in „Schriften zur Theologie“, Band 14, S. 405 ff ↩︎
- Eugen Drewermann „Das Wichtigste im Leben“, Ostfildern 2015, S. 95 – aus Markus II, 285 f ↩︎
- Albert Görres in „Karl Rahner-Bilder eines Lebens“ – Zürich – Köln/ Freiburg-Basel-Wien, S. 78 ↩︎
- Albert Görres in „Karl Rahner-Bilder eines Lebens“ – Zürich – Köln/ Freiburg-Basel-Wien, S. 79 f ↩︎
- Ein Wort von Karl Pfleger aus seinem Spätwerk „Christusfreude“ ↩︎
- Karl Rahner „Bilanz des Glaubens“, München 1985, S. 233 ↩︎
- Karl Rahner „Bilanz des Glaubens“, München 1985, S. 229 ↩︎