Willkür und Strukturen des Bösen
Auf vielen Gebieten scheint heute Willkür zu herrschen. In der Politik, in der Wirtschaft, im Persönlichen. Eine ‚regelbasierte Ordnung‘ wird als schwach, unsinnig oder als veraltet abgetan und lächerlich gemacht. Die Rede von der ‚Zeitenwende‘ (offensichtlich scheint es mehrere zu geben) scheint eines immer stärker zu verdecken: Wir leben in einer Zeit, in der „Strukturen des Bösen“ 1 als normal gelten, als das Maß, das Gültigkeit beansprucht. Wer den Reden der Autokraten lauscht, dem kann es kalt über den Rücken laufen. Erst recht bei deren Taten: Zölle-Gegenzölle, Steuern-Gegen- Steuern, Landraub mitten in Europa und auch sonst auf der Welt, fremde Soldaten in den Diensten von Autokraten, die vorgeben, im UNO – Sicherheitsrat für die ‚Sicherheit‘ auf diesem Globus Verantwortung zu übernehmen. Grotesker scheint es kaum noch zugehen zu können. Die Lüge scheint ‚hoffähig‘ geworden zu sein, zumal keiner mehr weiß, was ‚Wahrheit‘ überhaupt ist, was sie sein soll, ob es sie überhaupt gibt, ob und wie sie erkannt werden kann. Alles scheint im Fluss, beliebig, austauschbar, ersetzbar zu sein. Der Mensch – geboren, um am ‚Tisch des Daseins‘ abgespeist zu werden durch Konsum und Information, lediglich ein ‚Stoffwechsel- und Energieaustauschaggregat‘, das zu verschwinden hat, wenn es als ‚Kostenfaktor‘ die Bilanz ‚verhagelt‘.
Katastrophe
Stellt sich so in etwa die heutige Gemengelage in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft dar? Womöglich ist auch die Realität der Kirche davon infiziert. Darum scheinen eine theologische Betrachtung und Bewertung dieser Phänomene ebenso unerlässlich wie unausweichlich. Dies umso mehr, als ein Ausfall von Kirche und Theologie für die Welt von heute und morgen eine Katastrophe bedeutet. Wir werden darauf noch zurückkommen. Denn zwischen Theologen ist genau hierüber schon vor vielen Jahren ein Streit entbrannt, der genau aus diesem Grunde bis heute an Brisanz nichts eingebüßt hat. So fragte beispielsweise Eugen Drewermann den Konzilstheologen Karl Rahner massiv an – schon in seinem Bestseller und Erstling „Strukturen des Bösen“? 2 aus dem vergangenen Jahrhundert – ob er etwa das Böse verharmlost, ignoriert oder es gar nicht wirklich in den Blick nimmt bzw. bekommt.
Die Gnadenlosigkeit der Welt
„Man sieht, dass es dem Ernst und der Radikalität der Sünde nicht entspricht, wenn man, z.B. in der Rahnerschen Theologie … immer wieder versichert, dass jeder Mensch, auch der Sünder, unter Gottes Heilswillen stehe. Der allgemeine Heilswille Gottes steht außer Frage … Aber die Entsetzlichkeit der Sünde begreift man so nicht, dass sie darin besteht, die Gnade, die Erlösung nicht zu wollen, da diese als Bedrohung der gesamten Existenzeinrichtung empfunden werden muss; 3 denn nichts stellt die Gnadenlosigkeit der Welt, in der ein Mensch ohne Gott sich einrichten muss, mehr in Frage als die Gnade selbst … so besteht die Sünde in ihrer eigentlichen Konsequenz nicht nur in dem ‚Verlust der Gnade‘, sondern in der Verweigerung der Gnade. Daher kann es nicht anders sein, als dass der Übergang von der Sünde zur Erlösung … einem Tod, einem Sterben des alten Menschen, dem Zusammenbruch der gesamten Existenzeinstellung gleichkommt. Gnade also als Weltuntergang! Als neue Schöpfung! 4
Auch an anderer Stelle formuliert Drewermann „das Verhältnis des Christentums zu den außerbiblischen Religionen“ mit deutlichen Worten, in denen Rahners ‚anonyme Christen‘ dabei unzweideutig in den Fokus der Kritik geraten:
„Und hier auch muss das Christentum all den Widerspruch vom Judentum wie eine heilige Erbschaft übernehmen, die es verbietet, die absolute Differenz des Glaubens und des Unglaubens in ein bloßes Wechselspiel von Anonymität und Ausdrücklichkeit aufzulösen.“ 5
Nabelschau und Glasperlenspiel?
Die Frage Drewermanns an Rahner ist also die, ob er die Angst ausblendet. Verharmlost er gar all das, was uns in „Strukturen des Bösen“ gefangen nimmt? Nach Drewermann ist Sünde „nicht nur ‚Verlust der Gnade‘, sondern deren „Verweigerung“. Hier liegt die eigentliche Dramatik, gerade auch für uns heute. Denn eine Kirche, eine Theologie, die – aus welchen Gründen auch immer – das Böse ignoriert, verdrängt übersieht, die sich der Gnade verweigert – wird wertlos! Sie besitzt keinerlei Relevanz (mehr) für die Gesellschaft, sie verkommt zu einer ‚Nabelschau‘, zum bloßen ‚Glasperlenspiel‘ 6 Diese Anfrage wird man auch aus diesem Grunde gut bedenken müssen. Denn sie ist nicht nur eine Differenz zwischen Theologen. Sie ist eine grundsätzliche Anfrage und Herausforderung an Kirche und Verkündigung heute.
Welchen Einfluss kann Kirche mit ihrer Botschaft in der heutigen Gesellschaft geltend machen? Gibt es diesen Einfluss (noch)? Und wenn es ihn gibt, wenn die Verkündigung wahrgenommen wird als Einspruch – kann er (noch) Wirkung entfalten? Es empfiehlt sich auch hier – wie so oft – genauer hinzuschauen und sich ‚Rat zu holen‘ bei Karl Rahner. Jenem Theologen, der so oft geschmäht wurde, weil er so vieles (zusätzlich) bedenkt, so viele Einwände bespricht in langen Schachtelsätzen, ja dass er als ‚unlesbar‘ oftmals galt in seiner Zeit. Der aber auch als ‚Prophet‘ von vielen angesehen wurde, der wie ein ‚theologischer Seismograf‘ viele Entwicklungen in Kirche und Gesellschaft oft viel früher wahrnahm, als es seine ‚Oberen‘ im Orden und Bischöfe z. T. gern hätten und zuließen. 7 Der ‚ach so schwere Rahner‘ – dieses Vorurteil hält sich hartnäckig, auch noch Jahrzehnte nach seinem Tod – sollte dieser ‚theologische Meisterdenker‘ ausgerechnet an solch einer wichtigen Stelle wie der Frage nach dem Bösen ‚gepatzt‘ haben?
Das scheint eher unwahrscheinlich und Rahner selbst gibt schon einen Fingerzeig zu dem in Frage stehenden Sachverhalt in einem Gespräch mit dem bekannten Wiener Theologen Paul M. Zulehner. Beide Theologen führten das Gespräch ein Jahr vor Rahners Tod, also 1983. Sie führten es in Innsbruck, der Hauptwirkungsstätte von Karl Rahner. Und sie führten es zum Schwerpunkt seines Wirkens, zur Seelsorge.
Unbedingte Daseinsberechtigung
„Hier ist ein kleiner Hinweis auf die Auslegung der jahwistischen Urgeschichte durch Eugen Drewermann hilfreich. Ohne leugnen zu wollen, dass die Bibel die Hölle als die eschatologische Möglichkeit des absoluten Scheiterns der individuellen menschlichen Freiheitsgeschichte versteht, ist ein gegenwärtiges Moment der Hölle die ‚Hölle der Daseinsangst‘, in die ein Mensch sich zwangsläufig hineinverstrickt, solange er nicht die Erfahrung der unbedingten Daseinsberechtigung durch Gottes Gnaden gemacht hat.“ 8
Zu Karl Rahners Theologie, die ganz wesentlich Gnadentheologie ist, also Theologie der unendlich nahegekommenen, verschwenderischen Liebe Gottes, kann an dieser Stelle nur in wenigen Stichworten etwas gesagt werden. Aufhorchen lässt zunächst schon die Tatsache, dass ein Sammelband, der sich mit seiner Theologie beschäftigt, mit „Theologie aus Erfahrung der Gnade“ 9 überschrieben worden ist. In ihm lesen wir:
„Die erste entscheidende These Rahners ist, dass Gott in der Gnade nicht etwas, nicht eine sachliche Hilfe…gibt, sondern sich selbst: Gnade ist Selbstmitteilung Gottes als Liebe; und vervollständigend: Gnade ist Selbstmitteilung Gottes durch Jesus Christus im Heiligen Geist! Dies ist das überraschend Neue der Botschaft des Christentums; dies ist das große Mysterium des christlichen Glaubens: Gott selber will sich unserer armseligen Kreatur mitteilen…die göttliche Liebe hat selber Fleisch angenommen in Jesus Christus, hat alle Not und Plage, Hoffnungen und Ängste des Menschen sich zu eigen gemacht, uns in seine Gemeinschaft gerufen und uns sein eigenes Leben mitgeteilt…Daher ist seine Theologie immer Einführung in das uns unendlich nahegekommene heilige Geheimnis, dem der Mensch in Liebe und glaubender Hoffnung sich restlos anvertrauen muss, wenn er sich nicht endgültig verlieren will.“ 10
Ralf Miggelbrink spricht sogar ausdrücklich von einem „dramatischen Erlösungsverständnis“ bei Karl Rahner und nimmt damit direkten Bezug zu unserer Thematik. Ja, er warnt mit Nachdruck vor einer „Entdramatisierung, die heute ein verflachtes und eindimensionales Verständnis von Korrelation bestimmt.“
„Der einzelne Mensch ist im Ganzen seiner Existenz, in allen Akten seines Lebens immer schon auf Gott bezogen, ja das Ganze der Existenz wird ihm in der Disparatheit seiner biografischen Vollzüge, Meinungen und Beziehungen überhaupt erst im Gegenüber der Wirklichkeit Gottes als des schlechthin nicht Kontingenten ahnbar…So setzt sich der Mensch selber als Sünder der Selbstbehauptung gegenüber der Wirklichkeit Gottes in der trotzigen Verkapselung im Endlichen. Oder der Mensch öffnet sich dem Zielgrund der eigenen Transzendentalität in Akten der liebenden Bejahung der Herkunft und Hinkunft der Welt als ganzer und des eigenen Lebens.“ 11
Eugen Drewermann weiß genau, welche Implikationen der rahnersche Begriff des ‚anonymen Christen‘ 12 voraussetzt. Darum schreibt er an anderer Stelle auch – ganz entschieden anders als in seinen „Strukturen des Bösen“:
„…man braucht von den fremden Religionen überhaupt nichts zu kennen – wenn man nur ‚Christus kennt‘, so ist man schon in seiner Wahrheit und hat augenblicklich das Recht und die Pflicht, alle anderen Menschen, die keine Christen sind, <<bekehren>> zu müssen. Gegenüber einer solchen neokolonialistischen Christologie der Arroganz und der Ignoranz behaupte ich allerdings, dass man weder die Person noch das Anliegen Jesu zu verstehen vermag, solange man glaubt, im Namen Jesu irgendetwas verleugnen, verteufeln, verdrängen oder gar nicht erst zur Kenntnis nehmen zu müssen. Es scheint, als sei die anthropologische Wende in der systematischen Theologie, Karl Rahners Lehre z.B. vom anonymen Christentum, bis zu gewissen Kreisen der katholischen Exegese immer noch nicht vorgedrungen…“ 13
Die Spannungen zwischen diesen divergierenden Aussagen können uns auf eine Spannung im Werk Eugen Drewermanns selber aufmerksam machen. Vielleicht hilft zur Klärung ein Blick in ein spätes Grundlagenwerk von Eugen Drewermann, in dem es heißt:
Bedürftigkeit nach Erlösung
„Menschen zu <<Christen>>machen, ist … nicht anders möglich, als dass man ihnen hilft, in Menschlichkeit zu reifen … Und dennoch ist und bleibt die Person Jesu einzigartig … Was … die ganze Geistigkeit der <<Aufklärung>>, nicht sehen wollte, ist die Bedürftigkeit des Menschen nach Erlösung aus der Umklammerung der Angst und der Verzweiflung…Der ethische Optimismus…benötigt wirklich nicht viel mehr als Redlichkeit und Rechtlichkeit, – auf dieser Ebene ist Jesus…ersetzbar durch beliebig viele andere…Erst wem das Weltbild der Gesetzesreligion nicht minder als des Moralismus ein für allemal zerbrochen ist, der braucht die Botschaft Jesu, erst der beginnt zu ahnen, wofür der Mann aus Nazareth sein Leben einsetzte; für den gibt es nirgends entfernt auch nur etwas Vergleichbares zu der Person des Christus. Er kann nur leben aus dem gleichen Glauben, den Jesus uns zu bringen kam: Gnade statt Gesetz, Vergebung statt Verurteilung, ein Überlieben der Gewalt in Güte…die Tragödien des Daseins offenbaren immer wieder, dass es nicht möglich ist, das Leben eines Menschen in Ordnung zu bringen, ohne seine Angst im Untergrund zu überwinden durch Vertrauen. Der BUDDHA lehrte das Loslassen von den verkehrten Weisen des Anhaftens an die Welt, doch stellt sich ihm nicht das Problem der Angst im Erleben des Einzelnen; seine Lehre befreit asketisch von den Fesseln der Gier, doch rettet sie nicht aus dem Abgrund der Kontingenz des Daseins noch der Nichtfestgelegtheit der Freiheit…Man kann sie alle durchgehen. Für die Art Jesu gibt es keinen Vergleich; sie ist absolut gültig, sie betrifft einen jeden …
Die Frage bleibt, wie subjektiv reflex und ausdrücklich dieses Bekenntnis sich darbieten muss, um wahr zu sein. So wie es Leute gibt, die sich den Worten nach als Christen zu erkennen geben, obwohl in Wirklichkeit ihr Leben einem skandalösen Götzendienst gleichkommt, so wird es andere geben, die den Worten nach nicht sagen würden, dass sie Christen seien und die es doch entsprechend dem <<empirischen>> Kriterium in vollem Sinne sind. Wie viele gibt es, die wie selbstverständlich aushalten unter schwierigsten Bedingungen – an der Seite eines schwererkrankten Mannes, eines dement gewordenen Vaters, eines drogenabhängigen Sohnes? Sie fragen nicht lange nach Begründungen und Prinzipien, doch die Treue, die sie leben, hat etwas von Jesu Gleichnis vom barmherzigen Samariter …“ 14
Gerade der Schlussteil zeigt, dass Eugen Drewermann – bis ins Wörtliche hinein – sich im Laufe seines ‚Denkweges‘ Karl Rahners Überlegungen zur „Erfahrung des Geistes“ angenähert hat. 15
Karl Heinz Weger schreibt dazu:
„Es wurde schon (im Zusammenhang mit den transzendentalen Erfahrungen des Menschen) darauf verwiesen, dass sich die beste Schilderung solcher Erfahrungen, die an die eigene, d. h. die Selbsterfahrung appellieren und den Menschen auf die Bedingung ihrer Möglichkeit aufmerksam machen wollen, am eindringlichsten dort findet, wo Rahner die transzendentalen Erfahrungen als Gottes – oder Geisterfahrungen beschreibt.“ 16
Gott finden in allen Dingen
„Wo eine Verantwortung in Freiheit auch dort noch angenommen und durchgetragen wird, wo sie keinen angebbaren Ausweis an Erfolg und Nutzen mehr hat, wo ein Mensch seine letzte Freiheit erfährt und annimmt, die ihm keine irdischen Zwänge nehmen können, wo der Sturz in die Finsternis des Todes noch einmal gelassen angenommen wird als Aufgang unbegreiflicher Verheißung, wo der bittere, enttäuschende und zerrinnende Alltag heiter gelassen durchgestanden wird … wo man sich loslässt, ohne Bedingung, und diese Kapitulation als den wahren Sieg erfährt, wo der Mensch alle seine Erkenntnisse und alle seine Fragen dem schweigenden und alles bergenden Geheimnis anvertraut, das mehr geliebt wird als alle unsere uns zu kleinen Herren machenden Einzelerkenntnisse, wo wir im Alltag unseren Tod einüben und da so zu leben versuchen, wie wir im Tode zu sterben wünschen, ruhig und gelassen… Das ist Gott und seine befreiende Gnade. Da erfahren wir, was wir Christen den Heiligen Geist Gottes nennen. Da ist die Mystik des Alltags, das Gottfinden in allen Dingen…“
Wesen der Freiheit
Mich beeindruckt bei der Frage nach den ‚Strukturen des Bösen“ heute angesichts von arroganter Machtentfaltung um jeden Preis, sei es verbal, wirtschaftlich oder militärisch, dass es immer um „Tragödien des Daseins“ geht. Dass hinter der ‚Großmannssucht‘ fast immer abgrundtiefe Angst zu finden ist, im Leben zu kurz zu kommen oder zu kurz gekommen zu sein. Man bläst sich auf wie ein Frosch bis er platzt, nur um seine ‚Kleinheit‘, seine Kontingenz angesichts seiner vielfältigen Angewiesenheit zu verbergen oder zu kompensieren. Das alles ist heute medial so übermächtig, dass man es buchstäblich ‚mit Händen greifen kann‘, wenn man nur einmal die Fülle der Medien in Wort und Ton unbefangen auf sich wirken lässt.
Dabei sind die Medien ‚wertneutral‘. Sie und auch die ‘künstliche Existenz‘ können unser Leben in vielerlei Hinsicht erleichtern – und tun es – Gott sei Dank – ja auch in beeindruckender Weise. Aber es ist die Gier, die Angst, etwas zu verpassen, alles im Leben herauszuholen, es auszupressen, wie man eine Zitrone auspresst, um möglichst viel zu haben, zu genießen. Es gibt ja bei vielen Zeitgenossen nur dieses eine Leben im Hier und Heute. Man kann die modernen Götzen allesamt aufmarschieren lassen: Geld, Sex, Macht, Ruhm, Konsum – alle diese „Fesseln der Gier“, sie retten „nicht aus dem Abgrund der Kontingenz des Daseins.“
Wir sind als Wesen der Freiheit nicht determiniert, weil wir es immer noch mit uns selbst zu tun haben. Selbst im Akt, der das bestreitet, indem man sich als vollständig determiniert durch Genetik, Erziehung, sozialen Bedingungen erklärt, ist man es selbst, der diese Erklärung abgibt. Man entrinnt sich selbst also nicht, so dass die Frage nur lauten kann, ob wir zur Freiheit verdammt sind, wie es Sartre formulierte. Oder ob wir uns als verdankte Existenz verstehen, wie es die Botschaft des Glaubens sagt.
Damit ist der Punkt erreicht, der die Relevanz des Glaubens im Hier und Heute erweist: Wenn die Welt es sich leisten kann, so weiterzumachen wie bisher, dann wird es bald kein ‚Weiter so‘ mehr geben. Wenn die Botschaft des Glaubens im Leben ‚ankommt‘, wenn sie das Leben bestimmt, dann wird es eine beglückende Erkenntnis und Erfahrung sein, Menschen an unserer Seite wahrzunehmen, „die den Worten nach nicht sagen würden, dass sie Christen seien und die es doch entsprechend dem <<empirischen>> Kriterium in vollem Sinne sind.“
Dann werden wir sensibel für all jene, die auch die Widrigkeiten des Lebens „wie selbstverständlich aushalten unter schwierigsten Bedingungen“. Dann wird die Frage laut, woher denn diese Kraftquellen kommen. Dann wird man leicht erkennen, dass die Liebe, die Caritas, all das umsetzt, was Kirche eigentlich meint. Menschen des Glaubens sind freie Menschen, Menschen der Hoffnung und der Liebe, denn „die Treue, die sie leben, hat etwas von Jesu Gleichnis vom barmherzigen Samariter.“ Dann wird man auch kaum noch Schwierigkeiten mit dem Satz haben: „Für die Art Jesu gibt es keinen Vergleich“.
Jesu Leben und Tun, seine Botschaft, kann man eigentlich ganz einfach sagen. Es sind Worte, denen unsere Welt scheinbar sehr ermangelt. Worte, wenn sie ins Leben gewendet werden, uns Hoffnung und Zuversicht vermitteln. Worte, die allen Ängsten zu widerstehen vermögen, denn „glaubhaft ist nur Liebe“. 17 Und letztlich ist es so, dass der „Hörer des Wortes“ 18 ein Wort der Liebe, der Freude und der Annahme und Geborgenheit sucht. Er sucht es im Glauben, denn „wir glauben, weil wir lieben.“ 19
- Buchtitel von Eugen Drewermann ↩︎
- Buchtitel von Eugen Drewermann, Paderborn 1977/1978 ↩︎
- Interessant ist, dass sich diese Analyse fast wortwörtlich bei Karl Rahner selbst findet, und zwar in „Von der Not und dem Segen des Gebetes“ – Band 1 in „Beten mit Karl Rahner“, Freiburg-Basel-Wien 2004, S. 168: „Wer weiß, dass die sublimste Güte gerade die Voraussetzung einer sie mit der Schnelligkeit eines Blitzes pervertierenden Bosheit sein kann, dass das Paradies der Ort des tiefsten Falles ist, dass man Gottes Boten ablehnen kann, um Gott einen Dienst zu erweisen, das Zeugnis seines Sohnes wie eine Gotteslästerung hören kann – wird der sagen vor Gott: Ich bin gerechtfertigt vor Dir?“ ↩︎
- Eugen Drewermann „Strukturen des Bösen“ III, Paderborn – München -Wien – Zürich 1988(Sonderausgabe), S. 495 ↩︎
- Eugen Drewermann „Strukturen des Bösen“ III, Paderborn – München -Wien – Zürich 1996 (8. Auflage), S.176 – Mir fällt auf, dass Drewermann etwas parallelisiert, was keine Parallele darstellt, wenn er nämlich schreibt: „Und hier auch muss das Christentum all den Widerspruch vom Judentum wie eine heilige Erbschaft übernehmen, die es verbietet, die absolute Differenz des Glaubens und des Unglaubens in ein bloßes Wechselspiel von Anonymität und Ausdrücklichkeit aufzulösen.“ Wenn die Anonymität des anonymen Christen bei Rahner dem Unglauben entspräche und die Explizitheit dem Glauben, dann müsste er hier natürlich zu Recht Einspruch erheben. Aber so ist es ja nicht! Der anonyme Glaube ist eher der schwerere Glaube, so wie es in einem Zitat aus einer späteren Schrift Drewermanns anklingt: „Wie viele gibt es, die wie selbstverständlich aushalten unter schwierigsten Bedingungen – an der Seite eines schwererkrankten Mannes, eines dement gewordenen Vaters, eines drogenabhängigen Sohnes? Sie fragen nicht lange nach Begründungen und Prinzipien, doch die Treue, die sie leben, hat etwas von Jesu Gleichnis vom barmherzigen Samariter…“ – „Wendepunkte“, 2014, S. 230
Wie tröstend ist es dann aber, wenn dieser „anonyme Glaube“ den findet, an den er schon „unbewusst“ geglaubt hat und der ihm die Kraft seines Geistes geschenkt hat (vgl. den 2. Hymnus der Komplet nach der 1. Sonntagsvesper: „Christus, göttlicher Herr, dich liebt, wer nur Kraft hat zu lieben: unbewusst, wer dich nicht kennt; sehnsuchtsvoll, wer um dich weiß“). In Christus findet dieser anonyme Glaube dann „nicht nur größere Stütze und Verlässlichkeit, sondern auch seine eigentliche Wirklichkeit und jenen Frieden, als den Augustinus das Ruhen im Wesen bezeichnet: Frieden und Ruhe, die nicht Stagnation und Flucht bedeuten, sondern die Möglichkeit, sich umso entschiedener in den unverfügbaren Willen des Geheimnisses Gottes loszulassen, da man nun, nach des Paulus Wort, weiß, wem man glaubt und sich in radikalem Vertrauen angstlos (!!) anheimgibt.“ (Rahner, STh VI, 551) ↩︎ - Buchtitel von Hermann Hesse ↩︎
- Man denke in diesem Zusammenhang an sein Programmbüchlein zur Würzburger Synode „Strukturwandel der Kirche als Aufgabe und Chance“- Freiburg – Basel – Wien 1972 ↩︎
- Paul M. Zulehner „Denn ‚du kommst unserem Tun mit deiner Gnade zuvor…“, Düsseldorf 1984, S. 45. – Zulehner schreibt auf S. 14 „…wobei Karl Rahner das Manuskript intensiv durchgearbeitet hat.“ Daraus kann man ableiten, dass hier kein ‚Übersehen’ dieses Sachverhaltes von Rahner vorliegt, ganz abgesehen davon, dass ich kaum eine bessere und kürzere Zusammenfassung des Grundanliegens von Eugen Drewermann kenne als diesen sachdienlichen Hinweis!
Hier wird zudem auch deutlich, worauf Karl Rahner immer wieder mit Nachdruck insistierte: Von Schuld kann man erst reden, sie kann man erst zulassen, wenn zuvor die Erfahrung von Liebe, von Vergebung gemacht worden ist. Ansonsten ist man ‚blind‘ für das Phänomen Schuld, wird es ignorieren, verdrängen oder rationalisiert. Man kann es gar nicht als Schuld erkennen und existentiell als solche zulassen! – Vgl. dazu Karl Rahner in „Strukturwandel der Kirche als Aufgabe und Chance“, Freiburg-Basel-Wien 1972, S. 72 ↩︎ - „Theologie aus Erfahrung der Gnade“, Hildesheim 1994 ↩︎
- Roman A. Siebenrock in „Theologie aus Erfahrung der Gnade“, Hildesheim 1994, S. 48-51 ↩︎
- Ralf Miggelbrink in „100 Jahre Karl Rahner – Nach Rahner – post et secundum“, Köln 2004, S.34 f ↩︎
- Hier sei nur auf „Gnade und Welt“ von Nikolaus Schwerdtfeger, Freiburg – Basel – Wien 1982, verwiesen. ↩︎
- Eugen Drewermann „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“, Olten und Freiburg im Breisgau 1988, 3. Auflage, S. 46 f ↩︎
- Eugen Drewermann „Wendepunkte“, Ostfildern 2014, S. 223 – 230 ↩︎
- Gleichzeitig hat Drewermann die anfängliche schroffe Gegenüberstellung überwunden, die noch in „Strukturen des Bösen“ vorherrscht und die voraussetzt, dass Gnade und Freiheit – fast würde ich sagen – gänzlich unverbunden sich gegenüberstehen. Bei Rahner ist die zuvorkommende Gnade (Zuwendung Gottes) – ähnlich wie in der hypostatischen Union nach Chalzedon – mit dem menschlichen Freiheitsvollzug ungetrennt und unvermischt verbunden. ↩︎
- Karl-Heinz Weger „Karl Rahner“, Freiburg-Basel-Wien 1978, S. 82ff. – Vgl. auch Erfahrung des Geistes, SW 29, S.38-57 ↩︎
- Buchtitel von Hans Urs von Balthasar ↩︎
- Buchtitel von Karl Rahner ↩︎
- Buchtitel von Eugen Drewermann ↩︎