Illusionen von Glück, Freizeit und Freiheit.
Es gibt in dem ebenso umfassenden wie abgründigen Werk des russischen Schriftstellers Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1821-1881) einen Text, der die heutige Zeit eindrucksvoll charakterisiert. Es ist ein prophetischer Text, der noch im 19. Jahrhundert entstanden ist und Größe und Grenzen des Menschen so einfühlsam beschreibt, dass man meinen könnte, Dostojewski lebte heute hier bei uns oder er kommt gar aus der Zukunft in diese unsere Welt. Welchen Text meine ich? Es ist die Legende vom Großinquisitor. Sie ist Teil von Dostojewskis letztem Roman „Die Brüder Karamasow“. Kurz gefasst geht sie so: Im mittelalterlichen Spanien, in dem die Inquisition grausam herrscht, erscheint – noch einmal – Jesus auf Erden. Er spricht kein einziges Wort und wird doch von den Menschen erkannt. Und was tut er? Nichts anderes als bei seiner ersten Ankunft: Er heilt, er wirkt Wunder. Das geht eine Weile gut, solange, bis er verhaftet wird. Der Großinquisitor – ein alter Mann, ein Greis – klagt Jesus an. Er habe durch sein neuerliches Erscheinen die Ordnung auf dieser Erde gestört. Ja, der Vorwurf geht noch weiter, denn er beschuldigt Jesus, dass er den Menschen ihre Illusionen von Glück, Freizeit und Freiheit geraubt habe. Die Menschen sind doch glücklich gewesen- so die Wahrnehmung des Großinquisitors – und DU, Jesus, störst nur mit Deiner Rede von Freiheit, von Menschlichkeit. Dabei – so der Vorwurf an Jesus weiter – weißt DU, Jesus sehr genau, wie die Menschen sind. Dass sie geführt werden müssen. Dass sie gelenkt und geleitet werden müssen wie – ja, eben wie ‚Herdentiere‘. Der Mensch ist mit seiner Freiheit absolut überfordert. So in etwa hat es auch Friedrich Nietzsche in seiner Rede vom „Übermenschen“ beschrieben.
Heilsbringer und Heilsbotschaften
Wer die heutige Weltsituation unvoreingenommen auf sich wirken lässt, kann dem Gedanken des Großinquisitors durchaus etwas abgewinnen. Haben die Menschen aus den beiden Weltkriegen im 20. Jahrhundert etwas gelernt? Hat der Abwurf der beiden Atombomben auf zwei japanische Städte mit den entsetzlichsten Auswirkungen irgendeinen Lernprozess in Gang gesetzt? Hat man den deutlichen und klaren Voten und Warnungen des Club of Rome, gegr. 1968 (!) in Rom, je Glauben geschenkt in Bezug auf Nachhaltigkeit, Ressourcenverbrauch und globale Krisen? Geschweige, dass man die Politik auf Klimaschutz, Gerechtigkeit im globalen Maßstab und Nachhaltigkeit im Ressourcenverbrauch umgestellt hat. Und speist sich nicht der linke, der rechte und der religiöse Fanatismus aus genau dieser Erkenntnis: Der Mensch ‚hat‘ s verbockt‘. Er kann es nicht. Er ist gerade dabei, alles zu verspielen, vor allem die Zukunft der Kinder und Enkel. „Die letzte Generation“ – treffender kann man kaum die Angst benennen, die heute vor allem jüngere Menschen befällt, wenn sie auf die Machtgelüste und Ambitionen der derzeit Herrschenden schauen und sich Gedanken machen über ihre eigene Zukunft. Ist es da so seltsam und uneinsichtig, dass angebliche ‚Heilsbringer‘ mit ‚Heilsbotschaften‘ aufwarten, die rasch und umfassend eintreten, wenn man ihnen doch nur die nötigen Machtmittel an und in die Hand gibt. Diese Suggestion, dass die Demokratie eh‘ nichts taugt, viel zu langsam agiert, immer nur den ‚kleinsten gemeinsamen Nenner‘ findet – sie ist heute überall anzutreffen, verbunden mit Hass und Hetze gegenüber jenen, die von Eigeninitiative sprechen, von Verantwortung, von einem demokratischen Aushandlungsprozess, der entsprechende Rahmenbedingungen voraussetzt, zu denen insbesondere die Dezentralisierung von Macht gehört und das Einfordern von Grundtugenden wie Wahrheit, Verlässlichkeit und Transparenz.
Schon wieder in Vergessenheit geraten
Es ist diese ewige Sehnsucht, dieser uralte Traum, dieses Märchen vom „Lande Morgen und Übermorgen“, 1 das sich alle Tyrannen und Diktatoren zu allen Zeiten und an allen Orten nutzbar gemacht haben – und auch heute nutzbar machen. Auch die geschichtliche Tatsache, dass die beiden gesellschaftlichen Großexperimente im 20. Jahrhundert, der Sozialismus-Kommunismus und der nationalsozialistische Faschismus – unermessliches Leid über Menschen gebracht haben, scheint heute schon wieder in Vergessenheit zu geraten. Anders ist die Verharmlosung dieser Verbrechen, deren Verdrängung und Rationalisierung durch die heutige so genannte Neue Rechte und Neue Linke allenthalben geschieht, kaum erklärbar. Darum ist die Legende vom Großinquisitor Dostojewskis auch so brandaktuell. Denn immer wieder sprechen alle Verführer diese verräterische Sprache:
„Lässt sich nicht erkennen, dass die Menschen am meisten erschauern vor ihrer eigenen Freiheit? …Keine Last liegt auf den Schultern der Menschen unabwendbarer und unheimlicher als die Qual, sich in jedem Moment selbst entscheiden zu müssen, im Vollbesitz aller Verantwortung, im Zustand der Undelegierbarkeit des eigenen Tuns, im Wissen, dass all das, was entschieden wird, auch falsch sein kann…Wie aber, es gäbe eine Instanz, die den Menschen die Freiheit nehmen würde…Kein anderer Weg scheint den Menschen bestimmt zu sein, um auf Erden glücklich zu werden, als man wendet den Fluch ihrer Freiheit von ihnen…<<Du warst zu schwach>>, sagt sinngemäß der Großinquisitor dem wiedergekehrten Christus in den Gassen von Sevilla; << du hast den Menschen nicht wahr gesehen. Du hast ihm eine Freiheit zugetraut, die ihn quält, und du hattest nicht den Mut, dich zu bekennen zu seinem Glück>>…“
„…hat herausgefunden, dass, damit die Menschen leben können, es einen Teil der Menschen geben muss, der den Gang der Weltgeschichte kennt und verwaltet, und einen anderen, der dazu verurteilt ist, zu gehorchen und die entsprechenden Befehle auszuführen… Es könnte auch sein…, dass man diese Neun-Zehntel der anderen, gehorsamen Menschen, weil sie zu lästig den Wissenden und den Planenden sind, einfach in die Luft sprengt, damit endlich dann der Sozialkörper der Menschheit gegründet sei auf Wissenschaft, Vernunft und gußeiserne Prinzipien. Bis dahin aber gilt es, das Schildkrötengekrabbel durch den Sumpf möglichst abzukürzen…, dass es zwei Gattungen unter den Menschen gibt: die einen sind die gewöhnlichen Menschen; sie sind die Mitläufer, sie sind die Verwalter der Vergangenheit, sie sind die ewig gestrigen und die heute Gehorsamen; aber neben ihnen gibt es die ungewöhnlichen Menschen; sie diktieren die Zukunft, den Fortgang der Geschichte. Sie sind die Hefe im Brotteig; aber sie müssen gerade deswegen die bestehenden Gesetze brechen, eben damit das Alte verschwindet und durch das Neue ersetzt wird. Diese ungewöhnlichen Menschen müssen mitunter Frevel und Verbrechen begehen, um die bestehenden Gesetze zu zerstören.“ 2
Man muss diese Sprache einmal in Ruhe auf sich wirken lassen. Man muss Dostojewski sich einmal ganz aussprechen lassen, wie es bei Eugen Drewermann geschieht, der Vorwurf an Jesus und damit an das Christentum insgesamt von der Freiheit, die nur Unglück bringt, die überfordert, der der Mensch nicht gewachsen ist, nicht gewachsen sein kann. Die Rede vom „gewöhnlichen“ und „ungewöhnlichen“ Menschen, von dem, der gehorcht und dem, der befiehlt. Von dem der „Frevel und Verbrechen begehen (muss), um die bestehenden Gesetze zu zerstören“. Und von den „Neun-Zehntel der anderen, gehorsamen Menschen“, die man vielleicht besser wegsprengt, nur „, weil sie zu lästig den Wissenden und den Planenden sind.“ Die Rede vom „Schildkrötengekrabbel durch den Sumpf“ als Charakterisierung menschlicher Gemeinschaft.
Wer auf die Kriege und Krisen heute schaut, die in vielen Ländern fast apokalyptische Ausmaße annehmen, wird der nicht zunehmend von der Ahnung heimgesucht, dass diese Visionen schon heute längst Wirklichkeit geworden sind?
Widersprüche rächen sich
Wie umgehen mit dieser Ahnung, mit dieser Angst? Ja, es gibt auch eine seltsame Weiterführung des Prozesses aus dem Mittelalter. Ich kenne keine andere Stelle in der Literatur, die sich der Weiterführung dieses ‚Gerichtsprozesses‘ in dieser Art widmet als im Buch von Hans Urs von Balthasar „Der antirömische Affekt“. 3 Seltsam ist diese Weiterführung deshalb, weil dieser ‚Prozess‘ unter gänzlich anderen Vorzeichen abläuft. Nach 300 Jahren steht nämlich der Großinquisitor selbst vor Gericht, vor seinen Richtern:
„Dreihundert Jahre später. Die Situation hat sich umgekehrt: Jetzt steht der Großinquisitor, der Jesus verurteilt hatte, selbst vor Gericht…Unter dem ‚Bannstrahl gegen die Mächtigen“…hatte er die Gläubigen ‚zu einem einzigen einstimmigen Ameisenhaufen vereinigen können…Er nahm in seiner Autorität den Menschen ihre Freiheit ab … alles übernahm und trug er in einer überschweren Verantwortung, auch den Weg der Vollkommenheit organisierte er, beraubte ihn seiner Gefahren und verbesserte damit das Werk Dessen, den er noch einmal zu verbrennen beschloss. Aber Widersprüche rächen sich, und deshalb steht heute der Großinquisitor vor Gericht. Er, der damals gut zu tun meinte, das Werk Jesu zu verbessern, muss sich verantworten: hat er es nicht teuflisch verfälscht, hat er nicht – das war ja sein erster Gedanke – durch seine Autorität den Menschen die Freiheit geraubt, die sie angeblich nicht zu tragen vermochten? Können sie es wirklich nicht? …“
„Er hatte Jesus vorgeworfen, die Versuchung des Teufels abgewiesen zu haben, aus Steinen Brot zu machen. ‚Der Mensch lebt nicht vom Brot allein‘. Aber weißt Du auch, dass im Namen dieses irdischen Brotes der Geist der Erde sich gegen Dich erheben, mit Dir kämpfen und Dich besiegen wird? …Aber hat denn der Großinquisitor dieses Brot gebracht oder nur in schönen Reden gefordert, dass man es bringe? Oder hat er den Völkern den Frieden dieser Welt gebracht…? Sind nicht wir es, so rufen ihm die neuen Massen entgegen, die uns das Brot selber gesät und bereitet haben; sind nicht wir es, die am Weltfrieden bauen, an deinen beschwörenden, völlig wirkungslosen Reden vorbei?“ 4
Das Paradies auf Erden
Das alles ist nicht neu, auch wenn es heute in einer medialen Aufmachung und Inszenierung daherkommt, von der frühere Zeiten nicht einmal träumen konnten. Die Kirche wird heute ignoriert, verlacht, verhöhnt. Diktatoren aller Schattierungen haben Massen aufgehetzt, meist gegeneinander, um ihre Machtspiele und Machtgelüste auszuleben. Das „Paradies auf Erden“ wurde und wird feierlich und mit viel Pathos versprochen, ebenso wie die „Volksgemeinschaft“ beschworen wird, die auf „Blut und Boden“ basiert oder – wie bei den so genannten ‚Reichsbürgern‘ – das deutsche Kaiserreich von 1871. Dabei ist diese Gruppierung dermaßen skurril, dass sie ihren Unfug nicht nur mit einem außergewöhnlichen folkloristischen Aufwand betreibt, sondern ihm auch einen religiösen ‚Anstrich‘ gibt mit der Rede vom „ewigen Bund“. Die Frage bleibt, wie man mit all Dem umgehen kann und umgehen soll? Wie kann man der Verführungskunst entgehen, wenn man allüberall hört, was einem alles versprochen wird wenn…? Ja, wenn man seine Freiheit (endlich) aufgibt. Es gibt heute viele selbsternannte ‚Großinquisitoren“, die sich – anders als im Mittelalter, wo man noch etwas wusste von der Verantwortung vor Gott – vor nichts und niemanden mehr verantworten als vor sich selbst.
Mir scheint, der Einspruch des Glaubens darum heute nötiger denn je zu sein, ebenso die „Unterscheidung der Geister“. Und – bei allen Verführungskünsten der selbsternannten ‚Großinquisitoren profaner Prägung‘ – wir sollten ihnen nicht auf den sprichwörtlichen ‚Leim gehen‘! Wir sollten vielmehr der Weisheit des Hl. Ignatius folgen. Auch und gerade in dieser verworrenen Zeit! Denn Ignatius von Loyola war ein Mann der Neuzeit. Allerdings wusste er um das Größer-Sein-Gottes, um das selige Tun zur Ehre Gottes und um das Abstandhalten zu all dem, was sich uns oft geradezu aufdrängt, um uns gefangen zu nehmen und den ‚Transzendenzbezug‘, die Aussicht auf das ‚Mehr‘, das Gott uns verheißen hat, wenn wir die Suche nach IHM nicht von uns aus beenden, zu ‚verschütten‘.
Karl Rahner hat uns den ignatianischen Geist in einer Art und Weise erschlossen, dass es guttut, daran öfter zu erinnern. Denn es ist hilfreich, gerade heute, diese Weisheit zu kennen. Noch besser ist es, wenn sie im Leben wirksam umgesetzt wird. Dann wird sie sich als eine echte und wahre Lebenshilfe erweisen, nicht nur für uns selbst.
„Überall, wo wir das Endliche als endlich, das Gute als vorläufig, das Einzelne als kontingent erkennen, überall dort, wo wir die kleine Wahrheit eines assertorischen Urteils in der Kraft der Bejahung der absoluten Wahrheit sagen…sagen wir eigentlich: es ist im Grunde unseres Wesens als Wesensgrund eine Indifferenz gegenüber dem einzelnen Endlichen gegeben, die wir, wenn wir nicht indifferent werden, verleugnen und so gegen unser eigenes Dasein zerstörerisch handeln…Die Wesensindifferenz ist die wesentliche Aufgabe unseres Daseins, ist das, was zu übernehmen ist…Wir sind nie indifferent, wir werden es immer aufs Neue…Wir gehören uns selbst nicht. Die Verfügung der Freiheit über uns selbst besteht…gerade in dem Über-sich-verfügen-Lassen, so dass wir selbst uns als die Verfügten, als die Nicht-in-sich-selbst-Gründenden, als die Nicht-sich-selbst-Überschauenden arglos und frei annehmen und in diesem Sinne uns selbst gegenüber indifferent sind. Wir spüren, dass wir erst dort, wo wir von uns abspringen, Stand gewinnen; dass wir erst dort, wo wir uns loslassen, uns besitzen und anders nicht.“ 5
„Man kann auch in Zukunft von Gott sprechen, wenn man wirklich versteht, was mit diesem Wort gemeint ist, und es wird immer eine Mystik und Mystagogie der unsagbaren Nähe dieses Gottes geben, der das andere von sich geschaffen hat, um sich selber ihm in Liebe als ewiges Leben zu schenken. Die Menschen werden immer angeleitet werden können, die endlichen Götzenbilder, die an ihren Wegen stehen, zu stürzen oder gelassen an ihnen vorbeizugehen, nichts absolut zu setzen, was ihnen als Mächte und Gewalten, als Ideologien, Ziele und Zukünfte einzelner und bestimmter Art begegnet, ‚indifferent‘, ‚gelassen‘ zu werden und so in dieser nur scheinbar leeren Freiheit zu erfahren, was Gott ist… Es wird immer Menschen geben…die im Blick auf Jesus den Gekreuzigten und Auferstandenen es wagen, sich an allen Götzen dieser Welt vorbei auf die Unbegreiflichkeit Gottes als Liebe und Erbarmen bedingungslos einzulassen. Es wird immer Menschen geben, die in diesem Glauben an Gott und Jesus Christus sich zur Kirche zusammentun, sie bilden, sie tragen und sie – aushalten.“ 6
- DDR-Kinderfilm über Karl Marx und Friedrich Engels. Er sollte den Kindern in der DDR die Ideen von Marx und Engels näherbringen. ↩︎
- Eugen Drewermann – „Dass auch der Allerniedrigste mein Bruder sei – Dostojewski- Dichter der Menschlichkeit, fünf Betrachtungen“, Zürich-Düsseldorf, 1998, S.54-56 ↩︎
- Hans Urs von Balthasar „Der antirömische Affekt“, Freiburg-Basel-Wien 1974 ↩︎
- Hans Urs von Balthasar „Der antirömische Affekt“, Freiburg-Basel-Wien 1974, S. 295 f ↩︎
- Karl Rahner „Einübung priesterlicher Existenz“, Freiburg-Basel-Wien 1979, S. 42-46 ↩︎
- Karl Rahner „Das Alte neu sagen – Rede des Ignatius von Loyola an einen Jesuiten von heute“ – Freiburg-Heidelberg 1982, S. 78 ff ↩︎
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