Der Geist weht, wo er will – ein Pfingstimpuls in den Spuren Karl Rahners

Leben in unsicheren Zeiten

Wir leben in unsicheren Zeiten. Das betrifft nicht nur den Klimawandel oder die himmelschreiende Ungerechtigkeit auf unserem blauen Planeten oder die katastrophalen militärischen Gräuel, die tagtäglich verübt werden von jenen, die meinen, es sich leisten zu können, sich aufzuführen wie eine Räuberbande. Die meinen, weil sie die Macht haben, gehört ihnen die Welt, können sie machen, was sie wollen. Schlussendlich haben sie auch Macht über die Medien, die für sie zu all den Gräueltaten auch noch medial das gute Gewissen bereithalten. 

Wenn alles unsicher ist

Woran soll man, woran kann man sich (noch) halten, wenn alles unsicher ist? Wenn alles machbar zu sein scheint, wenn alles manipuliert zu sein scheint und man selbst keinerlei Kriterium zur Verfügung hat, Wahrheit, Irrtum und Lüge auseinander zu halten. 

Was soll da noch die Rede vom ‚Heiligen Geist‘? Gibt es ihn überhaupt? Wenn ja, wo und wie wirkt er? Oder ist er eine Fiktion, ein Hirngespinst, eine Illusion, wie Atheisten den Glauben seit jeher verdächtigt haben. Ist er „Opium für das Volk“, wie Marx und Lenin es beschrieben? Soll ein ‚Himmel‘ die Menschen vertrösten, damit sie im irdischen ‚Jammertal‘ still sind, stillhalten, um die Mächtigen ungestört ihre Kreise ziehen zu lassen? Das wäre tatsächlich eine absolute Verkennung von Religion, die ‚Gott‘ nur finden kann in der Liebe zum Nächsten, der heute durchaus auch der Fernste sein kann. Allerdings ist es auch Aufgabe der Religion, zu desillusionieren: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein“ und – bei aller erforderlichen Anstrengung um das Gemeinwohl- muss auch gesagt werden: Das ‚Paradies‘ ist nicht und niemals herbeizuzwingen. Im Allerletzten lebt der Mensch – auch und gerade dann, wenn er seine Möglichkeiten bedenkt – vom Empfangen. Sein Leben ist ein Geschenk, mit all den Gaben, die Menschen haben. Der Glaube  an ein personales absolutes Gegenüber ist mit seiner Orientierung auf den Primat des Empfanges, der Sinnstiftung und mit seinem Tröstungspotential weder absurd noch irrelevant. Er ist vielmehr menschengemäß.

Es ist seltsam

„Der Oxford-Mathematiker John Lennox schreibt: >>Entweder verdankt die menschliche Existenz ihre Entstehung geist- und zweckloser Materie, oder es gibt einen Schöpfer. Es ist seltsam, dass einige Menschen behaupten, ihre Intelligenz führe sie dahin, die erste der zweiten Möglichkeit vorzuziehen. <<“ 1

Menschen sind dazu bestimmt, zueinander zu finden, miteinander zu leben und füreinander dazu sein in Liebe und Hoffnung. Dafür sind ihnen die unterschiedlichen Gaben und Talente geschenkt worden. Nicht um sich selbst ‚gottgleich‘ zu fühlen, sondern um miteinander und füreinander da zu sein. Diese ‚Chancengleichheit‘ ist das Fundament nicht nur für ein gedeihliches Gemeinwohl. Ihm gilt auch die Verheißung des Mannes aus Nazareth, dass einmal jenes Reich kommt, in dem „alle Tränen getrocknet sind.“

Bessere Lieder müssten sie mir singen, dass ich an ihren Erlöser glauben lerne: erlöster müssten mir seine Jünger aussehen.“ 2

Nietzsches Zeitgenossinnen und Zeitgenossen

Das war der Vorwurf des Pastorensohnes aus Röcken, Friedrich Nietzsche (1844-1900) an seine christlichen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen. Er war ein scharfer, genauer Beobachter und zog aus seinen Beobachtungen den fatalen Schluss, dass es doch offensichtlich immer nur die Schwachen sind, die ‚Zukurzgekommenen‘ im Leben, die sich eine Moral ausgedacht haben, um den Lebensfreudigen, den Zupackenden ein schlechtes Gewissen einzureden. Die moralischen Vorwürfe, so Nietzsche, seien nichts anderes als die Rache derjenigen, die lieber selbst so leben möchten – reich, schön, satt- denen es aber aus verschiedenen Gründen versagt geblieben ist. So viel an dieser Diagnose im Einzelfall vielleicht richtig sein mag, eine Gegenfrage muss auch Nietzsche sich gefallen lassen: 

„Zunächst müsste man zurückfragen, ob der Mensch sich heute unerlöst erfährt, eingesperrt in die Hölle seiner Schuld, ummauert von seinen tausend Endlichkeiten und Enttäuschungen. Wenn der Mensch von heute diese seine Unerlöstheit nicht vorlässt…dann kann er natürlich auch seine Erlöstheit nicht erfahren.“ 3

Atemberaubende Aktualität

Wie sieht sie aus, diese ‚Unerlöstheit‘? Es gibt Texte, die schon viele Jahrzehnte alt sind. Die aber eine Aktualität ausstrahlen, die atemberaubend ist. Vor fast 70 Jahren schrieb der heute weithin unbekannte Reinhold Schneider (1903-1958) einen Text, kurz vor seinem Tode, der mir immer noch, wie man gern sagt, ‚unter die Haut geht‘: 

„Wenn ich nicht mehr zurechtkomme mit dem, was um mich und in mir geschieht, so nehme ich Himmelsphotographien vor und die dazugehörenden Zahlen, Bilder der Milchstraße und Kugelhaufen, die kaum an ihren Rändern in ihre Sterne aufgelöst werden konnten, der wildbewegten, von Nacht durchzogenen Nebelwolken kosmischer Geburt und grenzenloser Leere. Wir haben uns an das Wort Lichtjahre gewöhnt und an sechs – oder siebenstellige Zahlen davor: aber wer ist imstande, den Raum sich vorzustellen, den das Licht in einem Tage, in einer Stunde durcheilt. Und dann steigen und sinken die grenzenlosen Nächte, und wir gehen unter in ihnen und dahin… Wir können nicht mehr aufblicken, wie der fromme Kepler: was uns durchschauert, ist erhabene Sinnlosigkeit, leblose, kreisende Feuer, willkürlich ausgeschleudert und zusammengeworfen, in all ihrer Gewalt unter der Übermacht der Nacht und dazwischen irrend an unscheinbarer Stelle diese unsere Zauberinsel des Lebens und Geistes, der Schuld und des Todes…wer wagt von einem Plan zu reden, der Weltharmonik, gegenüber diesem Treiben und Sich-Verlieren und Auseinandertreiben…Was hätte Kepler gesagt zu der Auffassung, dass Weltall – wie Lebensentfaltung – explosive Prozesse seien!…Wer kann sich dem Gefühl entziehen, besiegt zu sein und unterzugehen im Ozean funkenstiebender Nacht? Es ist Hybris, den Sinn in sich selbst zu finden, in personaler Geistigkeit, wie Pascal und Fichte das wollten. Es ist Vernichtung, es nicht zu tun. 4

Heiliger Geist – wo bist du?

„Es ist Hybris, den Sinn in sich selbst zu finden, in personaler Geistigkeit… Es ist Vernichtung, es nicht zu tun.“ Gibt es ein größeres Dilemma? Wohl kaum, und mir scheint, dass Schneider damit unsere Zeit und die Schwierigkeiten der Frage nach dem ‚Heiligen Geist‘ ziemlich genau charakterisiert und lokalisiert hat. Einerseits können wir – trotz vielfacher Versuche von Soziologie, Genetik, Neurochirurgie oder anderer moderner Forschungszweige – uns als personale Wesen nicht aufgeben, ohne uns selbst aufzugeben. Andererseits – und das nicht nur in den verschiedensten Verschwörungsmythen, sondern bereits seit Platons Höhlengleichnis – scheint es so zu sein, dass Menschen sich vorkommen wie in einem großen Streichelzoo. Sie meinen, freie Wesen zu sein, große Möglichkeiten zu haben und – so dieser Mythos – sind am Ende doch nur Getäuschte, Manipulierte oder wie Friedrich Nietzsche es derb ausdrückte arme, bedauernswerte „Herdentiere“. Das Eigentliche, die Wirklichkeit schlechthin, scheint uns unzugänglich zu sein. Wir meinen zudem, dass in unserem Digitalzeitalter mit KI, Laptop und Handy diese (Verschwörungs -) Mythen Hochkonjunktur haben. Doch es hat sie zu allen Zeiten gegeben. Sie haben den ‚Heiligen Geist‘ Gottes nicht nur in Frage gestellt. Sie haben ihm seinen Platz geraubt.  Karl Popper hat 1969 diesen Sachverhalt sehr schön formuliert: 

„Verschwörungstheorie“ oder „Wer nimmt seinen Platz ein?“

„Die Verschwörungstheorie der Gesellschaft ist nur eine Variante des Theismus, eines Glaubens an Götter, deren Launen und Willen alles beherrscht. Sie kommt davon, dass man Gott aufgibt und dann die Frage stellt: >Wer nimmt seinen Platz ein? < Sein Platz wird dann besetzt durch verschiedene mächtige Menschen und Gruppen – durch finstere Interessengruppen, denen dann unterstellt wird, dass sie die große Depression geplant haben, und alle Übel, an denen wir leiden.“ 5

„Gott nur das sein lassen, was die Welt ist“

Es scheint so zu sein, dass alle modernen (Verschwörungs-)Mythen einem Grundmuster folgen, das Karl Rahner (1904-1984) treffend beschrieben hat als „ewigen Sündenfall“: 

„Ist nicht dieser ewige Sündenfall in der Geschichte der Philosophie, nicht nur im Gebiet des Erkennens, der Ausdruck dessen, was im Leben des unerlösten Menschen existentiell immer aufs Neue geschieht: Gott nur das sein zu lassen, was die Welt ist, Gott zu machen nach dem Bilde des Menschen die Möglichkeiten des Menschen… zu bemessen…nach dem, was der Mensch selbst von sich aus …zu realisieren vermag?“ 6

Nicht zu verhindern

Gottes Geist kann nicht wirken, wenn wir ihm ‚die Tür vor der Nase zuschlagen‘. Wir können sein Liebesangebot nicht verhindern, er ist immer da, er war immer da und er wird immer da sein. Aber er vergewaltigt uns nicht. Menschen sind keine Marionetten. Sie sind berufen, mit Gott eine Liebesgeschichte einzugehen. Es gibt tatsächlich auch die (fatale) Möglichkeit, „Gott nur das sein zu lassen, was die Welt ist, Gott zu machen nach dem Bilde des Menschen…die Möglichkeiten des Menschen… zu bemessen…nach dem, was der Mensch selbst von sich aus …zu realisieren vermag?“ Diese Spannung zwischen Angebot und Annahme göttlichen Zuvorkommens (Gnade) ist unaufhebbar.   Ohne das Wagnis des Glaubens gibt es den Glauben nicht. Das ist schon vorgeprägt in allen menschlichen Vollzügen: Vertrauen, Hoffnung,  Liebe und Verzeihen – sie alle gehen nicht ohne Wagnis ab. Sie entziehen sich der vollständigen Kontrolle, besser: Sie werden durch diese zerstört.  So ist es auch mit dem Glauben. Er wird immer wieder – und zwar vorrangig im Leben und durch das Leben – gefragt:

„Das Christentum stellt also dem Menschen die eine Frage, wie er sich im Grunde verstehen wolle: ob als handelndes Wesen nur im Ganzen, das mit dem Ganzen als solches nichts zu tun hat … oder als empfangend – handelndes Wesen des Ganzen, das es auch mit dieser Bedingung seines Erkennens, Handelns und Hoffens als solcher zu tun hat und im zukunftsschaffenden Handeln innerhalb des Ganzen dieses Ganze, die absolute Zukunft selbst auf sich zukommen, für sich selbst Ereignis werden lässt. Das ist im letzten die einzige Frage, die das Christentum stellt.“ 7

„Die einzige Frage, die das Christentum stellt“. Um sie geht es in der Frage nach dem Wirken des Heiligen Geistes, denn: 

„Mit Gott, endgültiger Unmittelbarkeit zu ihm, Gnade und Jesus Christus ist …das Ganze der Heilswirklichkeit umgriffen…Da aber alle diese Worte nur das eine besagen, dass nämlich die Welt eine absolute Zukunft, und zwar wirklich als heile besitzt, dass ihr Werden erst in der Absolutheit Gottes selbst ihr Ziel hat, ist es berechtigt, wenn wir sagen, das Christentum sei die Religion der absoluten Zukunft.“ 8

Das Wirken des Heiligen Geistes

Ist das alles nicht viel zu abstrakt, zu theoretisch? Kommt der Glaube im Leben überhaupt vor? Vielleicht müssen wir heute erst wieder gleichsam ‚verschüttete Gänge‘ freischaufeln angesichts der Überfülle an Angeboten in den vielfältigsten Bereichen und Lebensvollzügen. Wo die Frage nach dem Menschsein nicht verdrängt wird, hat die Antwort der Religion überhaupt erst eine Chance anzukommen. Denn nur sie lehrt uns, uns selbst und die Welt um uns und mit uns zuallererst als Geschenk zu begreifen. Und sie hat gute Gründe dafür. Einer davon ist, dass der Mensch

 „sich auf die Dauer nicht anbeten kann, weil dieser Gott doch zu armselig ist.“ 9

Der Glaube ist auch deshalb keine Überforderung, weil Gott uns mit seiner Liebe ‚immer schon‘ zuvorgekommen ist. Karl Rahner hat unermüdlich darauf aufmerksam gemacht, dass diese ‚Ansprache Gottes‘ im Leben und durch das Leben passiert. 10 Nicht zufällig heißt der Titel eines Taschenbuches von Karl Rahner auch „Vom Glauben inmitten der Welt“ 11. Doch man wird auch hier behutsam vorgehen müssen, denn:

„Dem, der es fertigbrächte, sich ruhig, sicher und endgültig in der Alltäglichkeit friedlich zu verbarrikadieren, würde ich nichts zu sagen versuchen. Aber ich bezweifle, dass es Menschen gibt, denen das durch ihr ganzes Leben hindurch gelingt, und ich würde, wenn es einen solchen Menschen dennoch geben sollte, zwar nicht mit ihm diskutieren, aber diese tapfere und verantwortete Entschlossenheit, sich einer totalen Lebensfrage zu versagen, noch einmal für mich als eine anonyme Weise des Glaubens zu interpretieren versuchen…Faktisch erfahren wir uns als die durch dieses Geheimnis Angerufenen, als die, die den ungeheuerlichen Mut haben können und haben sollen, hoffend, liebend, betend dieser Unbegreiflichkeit Gottes als dem bergenden Geheimnis entgegen zu gehen. Wenn wir nicht vor diesem uns scheinbar tödlich überfordernden Geheimnis umkehren und weglaufen, sondern die unglaubliche Überzeugung uns abverlangen, dass dieses Geheimnis, als es selber sich uns gibt und einmal selber unsere Vollendung sein wird, dann glauben wir. Dann nehmen wir den <<agnostos>> Gott, der der Grund unseres wahren Agnostizismus ist, als die wahre Erfüllung an.“ 12

Das Wirken des Heiligen Geistes ist nicht an äußeren Kennzeichen abzulesen, vor allem nicht in unserer lauten und rastlosen Welt. Kirche hat sicherlich auch einen Dienst der ‚Entschleunigung‘ zu leisten, denn Gottes Wirken ist weder laut noch drängelt es sich vor. Man braucht Stille, Kontemplation, Ruhe und eine ‚Einkehr‘ bei sich selbst, um IHN wahrzunehmen. Dann allerdings ist es eine hoffnungsfrohe Kunde, die wir als Kirche der Welt zu vermitteln haben – im Wort, im Dienst, in der Feier: ER ist immer da. Er bleibt auch immer da! Man muss nur sensibel und aufmerksam für sein Liebeswerben sein, denn:

„Man hat schon immer gehofft und geliebt, wenigstens in Spuren und kleinen Ansätzen…man muss (was nicht erzwungen werden kann) diese schon erfahrene Hoffnung und Liebe…in Freiheit bis zum Letzten ihren Lauf lassen durch die immer neuen Anläufe unserer Lebenstat hindurch. Dann wird jene Sicherheit immer aufs Neue erfahren…die der Tat der bedingungslosen Hoffnung und Liebe inwendig ist.“ 13


  1. Tobias Haberl „Unter Heiden – Warum ich trotzdem Christ bleibe“. München 2024, S.269 ↩︎
  2. Friedrich Nietzsche „Also sprach Zarathustra“, Leipzig 1941, S. 98 ↩︎
  3. Karl Rahner/ Karl -Heinz Weger „Was sollen wir noch glauben?“, Freiburg-Basel-Wien 1979, S. 146 ↩︎
  4. Reinhold Schneider „Der Balkon“, Wiesbaden 1957, S. 168 f  ↩︎
  5. Umberto Eco „Verschwörungen – Eine Suche nach Mustern“, München 2021, S. 13 ↩︎
  6. Karl Rahner „Schriften zur Theologie III, 1962 (5. Auflage), Einsiedeln, Zürich, Köln, S. 94 ↩︎
  7. Karl Rahner in „Der Dialog“ – Garaudy – Metz – Rahner, Hamburg 1966, S. 14 f ↩︎
  8. Karl Rahner in „Der Dialog“ – Garaudy – Metz – Rahner, Hamburg 1966, S. 17 ↩︎
  9. Karl Rahner „Von der Not und dem Segen des Gebetes“, Innsbruck 1949, S. 35 ↩︎
  10. „Denn du kommst unserem Tun mit deiner Gnade zuvor“ – Paul M. Zulehner im Gespräch mit Karl Rahner – Ostfildern 2002 ↩︎
  11. Karl Rahner „Vom Glauben inmitten der Welt“, Freiburg-Basel-Wien 1961 ↩︎
  12. Karl Rahner „Schriften zur Theologie“, XV, S. 134-137 ↩︎
  13. Karl Rahner-Karl Heinz Weger „Was sollen wir noch glauben?“, Freiburg-Basel-Wien 1979, S. 48 ↩︎

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