Ein Leserbrief an die Schweriner Volkszeitung.
Herzlich danke ich Ihnen für den Beitrag Ihrer Zeitung unter dem Titel: “Was du willst, das andere dir tun, das tue auch für die anderen.” Der Beitrag-erschienen in der Schweriner Volkszeitung am Samstag, d. 25.Januar 2025- widmet sich ausführlich dem Wirken eines katholischen Geistlichen, der sich um Versöhnung, Verstehen und Dialog direkt vor Ort, also in Auschwitz, dem Ort unvorstellbarer Schrecken und unvorstellbaren Grauens, bemüht. Er sieht es als seine Lebensaufgabe an, zu erinnern, zu fragen, zu hinterfragen und nachzuspüren, wie es zu solch monströsen Denkweisen, Taten und Handlungen kommen konnte.
Mich beeindruckt die Intention und die Tätigkeit des Seelsorgers und Priesters Manfred Deselaers ungemein, der mit der Arbeit “Und Sie hatten nie Gewissensbisse?” über den Lagerkommandanten von Auschwitz, Rudolf Höß, und dessen Verantwortung vor Gott und den Menschen promovierte. Es gab, wie nicht anders zu erwarten, auch Widerstände: “Versöhnung mit dem Vieh?!” hieß es wohl öfter. Die Antwort des katholischen Geistlichen: “Aber er war kein Vieh, sondern ein Mensch.” Und weiter: “Gerade weil er ein Mensch war, hat er versagt.”
Manfred Deselaers schürft in seinem Bemühen um Verstehen sehr tief:
“Wenn sich aus mangelndem Selbstwertgefühl der Drang nach Anerkennung durch Höherstehende ergibt und das Streben, in der Hierarchie der Gesellschaft weit nach oben zu kommen, zu Reichtum und Besitz, um von dieser Seite aus etwas darzustellen. Und wenn dabei der andere nicht interessiert, egal was mit ihm passiert.” [1]
Es ist diese Erkenntnis eines wesentlichen Aspektes des abgrundtief Bösen, das sich speist aus letztlich unerfülltem Verlangen nach Liebe und Anerkennung, auf das wir sehr gut achten sollten! Denn dieses Defizit kann sich auswachsen zu diesen und ähnlichen monströsen Verhaltensweisen. Es geht dabei weder um irgendeine Nivellierung oder gar um ein Relativieren des abgründigen Schreckens. Dennoch darf dieser anthropologisch-theologische Aspekt nicht außeracht gelassen werden, wenn man nicht oberflächlich und vereinfachend sich dem Phänomen Auschwitz nähern möchte. Eugen Drewermann beschreibt den in Frage stehenden Sachverhalt so:
“Das Bedürfnis nach einer absoluten Sicherheit angesichts der Nichtigkeit und Kontingenz des Daseins ist offensichtlich dem Denken und Empfinden des Menschen selbst wesenseigen; es wird nicht von bestimmten Bedingungen einer Gesellschaft hervorgebracht, mit denen zugleich es zugrunde gehen könnte, sondern es bedient sich lediglich der gesellschaftlichen Bedingungen, um in bedingter Form eine unbedingte Antwort auf die totale Infragestellung des Menschen selbst zu geben. Eben diese unbedingte Antwort auf die radikale Kontingenz (und Angst) des menschlichen Daseins ist die Religion, und gerade so muss sie jenseits der Soziologie auch verstanden werden.“ [2]
Mir scheint gerade heute die Tiefe dieser Analyse geboten, denn es gibt nicht ‘ein bisschen Menschenwürde’ oder ein ‘teilweises Menschenrecht’, wie es auch heute manche Wahlkämpfer offen oder verdeckt verlauten lassen. Weil der Mensch ein “Bedürfnis nach einer absoluten Sicherheit angesichts der Nichtigkeit…des Daseins” hat, braucht er auch eine entsprechende Antwort, die diesem Bedürfnis gerecht zu werden vermag. Und das kann weder ein “Führer” oder eine “führende Partei” sein, weder Geld, Macht, Luxus oder sonst ein illusionäres Versprechen. Auschwitz ist auch nicht hinreichend erklärt als faschistisches Phänomen im Zusammenhang mit imperialistischen Prozessen. All das greift viel zu kurz, weil der Mensch, jeder Mensch, im Letzten ein religiöses Wesen ist. Weil nur Religion “diese unbedingte Antwort auf die radikale Kontingenz (und Angst) des menschlichen Daseins” geben kann.
[1] Schweriner Volkszeitung am Samstag, d. 25.Januar 2025
[2] „Tiefenpsychologie und Exegese“, I, Walter-Verlag Olten-Freiburg 1992, S.64