Das Grundsatzreferat auf dem Nordischen Katholikentag anlässlich des 1100. Todestages St. Ansgars in Hamburg am 18.06.1965 hielt Karl Rahner. Vor ca. 60 Jahren äußerte sich Rahner zu Fragen, wie der Christ sein Christsein in einer Umwelt gestaltet, in der fast sämtliche Lebensvollzüge vollständig säkularisiert erscheinen. Diese Aussagen sind auch im Jahr 2024 ‚brandaktuell‘ und sind deshalb bedeutsam für unsere heutige Situation.
Darum seien sie in Stichworten kurz benannt. Rahner nennt insgesamt 4 Stichworte, nachdem er in („Schriften“, VII, 91) [1] eine Zeitdiagnose vorgelegt hat, die prophetische Qualität aufweist.
- „Das erste, meine ich, ist dies: Der Christ teilt brüderlich mit allen anderen Menschen diese Welt von heute, so wie sie ist. Er flieht sie nicht, er will weder in einem Getto leben noch im Windschatten der Geschichte.“ (91)
- Das zweite ist dies: Der Christ erkennt die Diaspora an, in der er heute, und zwar überall, leben muss, als die letztlich positiv zu deutende Situation seines Christseins.“ (92)
- Ein drittes sei gesagt. Es betrifft die christliche Gemeinde. In der Situation einer pluralistischen Gesellschaft und einer allgemeinen Diaspora wandelt sich die Kirche notwendig von einer Volkskirche in eine Glaubenskirche.“ (95)
- Das vierte und letzte ist das Schwerste und Schönste zugleich: Das ewig alte und ewig neue Christentum…ist auch heute und in der Diaspora die geschenkte Gnade und die Aufgabe des Christen. Wir bewegen uns in immer beschleunigterem Tempo auf die Welt von morgen zu, auf die eine Weltgeschichte…auf eine Welt noch ungeahnter technischer Erfolge und noch komplizierterer gesellschaftlicher Formen. Aber sie bleibt in ihrem tiefsten Grund doch die Welt, die jeder schon im Abgrund seines Herzens erfahren hat, bleibt es unausweichlich: die Welt der Seligkeit und der Verzweiflung, die Welt der Reinheit und der Schuld…die Welt, die durch sich selbst, durch ihre lebendige Bewegung hinauf und vorwärts und durch ihre schreckliche Unvollendbarkeit und ihre Abstürze in den Tod unerbittlich die Frage nach ihrem letzten Geheimnis, Gott, stellt, weil sie in ihrer Bewegung umfasst und getragen ist in den Tiefen des Herzens und im Gang ihrer Geschichte durch die größere Bewegung, in der Gott selbst auf sie zukommt, richtend und begnadigend, weil auf Dauer kein Mensch das Schweigen der letzten, der umfassenden Frage überhören kann, selbst wenn er meinen und leben sollte, dass man das Unbegreifliche nicht bereden sollte. Diese Situation ist die alte und ewig neue, die eigentlich christliche, die alle alten und neuen Situationen partikulärer Art schon immer überholt hat. Dass wir also im radikalsten und doch selbstverständlichsten Wagnis unseres Lebens uns geborgen wissen im absoluten Geheimnis, das uns annimmt, das uns annehmend unsere Lebensschuld vergibt und uns mit sich selbst begnadigt, dass darin alles umfasst bleibt, was sonst unser Leben ausmacht, dass diese Selbstzusage Gottes in Jesus Christus in der Dimension unserer Geschichte und menschlichen Gemeinschaft da ist, dass wir den Tod dieses Christus als Heil feiern und in dieser Feier unseren Tod als Einbergung unseres Daseins in die Nähe Gottes annehmen, um ihn so im Leben real zu erleiden, dass wir uns als Kirche, der so mit dem Leben fertig Werdenden erfahren, das ist auch heute noch das alte, das neue, das immer selbe Christentum, das auch der heutigen Situation unseres Daseins entspricht.“ (101 f)
[1] Gemeint sind Karl Rahners „Schriften zur Theologie“ (insgesamt 16 Bände). Hier konkret Band VII, von dem H. Riedlinger sagt: „Wer Rahners theologisches Wollen in allen seinen Dimensionen verstehen will, kann nicht auf ein eingehendes Studium des VII. Bandes verzichten, der die Autorität einer ungewöhnlichen geistlichen Erfahrung ausstrahlt.“ (Schwerdtfeger „Gnade und Welt“, 62) Die in Klammern gesetzten Zahlen beziehen sich auf die Seitenzahl in Band VII der „Schriften zur Theologie“.