Vom Glauben inmitten der Welt
Es gibt Momente, die tatsächlich – wie man es gerne so ausdrückt – „unter die Haut gehen“. So erging es mir vor ein paar Tagen. Gemeinsam mit meiner Frau unternahm ich eine Fahrrad-Tour. Wir waren auch in der wunderschönen Hansestadt Wismar mit ihrem maritimen Flair, mit Hafen, Werft, dem Marktplatz mit vielen gastronomischen Einrichtungen und Marktbuden mit den vielfältigsten Angeboten. Es war herrliches Wetter, wir hatten Zeit zum Bummeln und Verweilen. Mir fiel ein Buchtitel Karl Rahner ein: Vom Glauben inmitten der Welt. Das Buch ist vor über 60 Jahren erschienen 1 und hat – trotz Digitalzeitalter und der damit verbundenen Informationsgesellschaft – in vielen Bereichen an Aktualität kaum etwas verloren. Es fand eine Sprache der Freude, der Sehnsucht, der Hoffnung, die uns auch heute noch anspricht und die uns anleiten kann, unseren ‚Urworten‘ wie Herz, Blume, Wurzel, Quelle, Wind und Lachen zu lauschen, auf sie aufmerksam(er) zu werden und vielleicht selber auch solche Worte zu formen, die allesamt über all das hinausführen, was uns vordergründig im Alltag gefangen nimmt.
„Die Urworte, die der Dichter spricht, sind Worte der Sehnsucht. Sie sagen ein Bildhaftes, Anschauliches, Dichtes. Aber es ist das bildhaft Einmalige, das über sich hinausweist…Die Worte des Dichters sind wie Tore, schön und fest, klar und sicher. Aber es sind Tore zur Unendlichkeit, Tore ins Unübersehbare. Sie rufen das Ungenannte…Sie sind Akte des Glaubens an den Geist und an die Ewigkeit; Akte der Hoffnung auf eine Erfüllung, die sie sich selber nicht geben können …Der Dichter wird getrieben von der Transzendenz des Geistes. Er ist schon im Geheimen, ihm selbst unbewusst, übermächtigt durch die Sehnsucht, die der Heilige Geist der Gnade dem Menschen ins Herz gelegt hat. So spricht er Worte der Sehnsucht, auch wenn er von den Blumen und von der Liebe zweier Menschenherzen sagt. Seine Worte der Sehnsucht strecken sich aus nach einer unüberbietbaren Erfüllung, nach der vollkommenen Liebe, nach der endgültigen Verklärung aller Wirklichkeit. Sein Wort ruft also nach einem anderen Wort: nach dem Wort, das auf dieses sein Wort Antwort gibt. Es ruft nach dem wirksamen Wort, das die Sehnsucht erfüllt…Das dichterische Wort ruft darum Gottes Wort.“ 2
Simone Weil und ihre Fragen an Gott
Was bei solch einem Ausflug nicht fehlen darf, ist ein Besuch in den Kirchen Wismars. Die gotische Backsteinkunst übt auch heute noch eine überwältigende Faszination aus. Allein die gewaltige Höhe des Mittelschiffes in der Kirche von St. Nikolai lässt etwas ahnen von dem Geist, in dem diese christlichen Bauwerke errichtet worden sind. Und es gibt eine Menge zu bestaunen: In der Kirche gibt es vielfältige Angebote: Eine Ausstellung, ein Bücherbasar, eine Kinderspielecke und genügend Raum zur Stille, zur Muße, zur Anbetung. Die Orgel füllte den ganzen großen Raum mit einer Andacht, der sich kaum jemand entziehen konnte. Mich erfüllte dieser Tag mit einer großen Dankbarkeit – und mit einer ebenso großen Nachdenklichkeit.
In dieser Kirche befindet sich eine Ausstellung. Zitate der französischen Philosophin, Mystikerin und politische Aktivistin Simone Weil (1909 – 1943) wurden Bildern von Vertreibung, Flucht, von Entwurzelung, Entmenschlichung und Armut, von Leid und Not unvorstellbaren Ausmaßes zugeordnet. Simone Weil wurde nur 34 Jahre alt, sie starb an Tuberkulose; ihr Körper war stark durch Unterernährung geschwächt. Mich trieb die Frage um: Was macht solch eine verstörende Ausstellung in der Kirche? In einem Ort, in dem Stille herrscht, Anbetung, Freude über die Erlösung durch Jesus Christus, durch seinen Tod und seine Auferstehung.
Simone Weil gilt weithin als eine der originellsten Denkerinnen des 20. Jahrhunderts. Sie stand mit ihrem Werk und mit ihrem Leben ein für all die Vielen, deren Leid keine Stimme bekam. Sie setzte das Buch Hiob in unserer Zeit fort und betete die Psalmen im Hier und Heute weiter, die GOTT anklagen ob des großen Unrechtes, des Hasses und der Gewalt. Denn es ist – und bleibt – doch SEINE Schöpfung. Und genau darum gehört diese Ausstellung in die Kirche – und zwar an vorderster Stelle!
GOTT-WO BIST DU?
Wir haben uns vielleicht zu sehr daran gewöhnt, an die frohe christliche Botschaft von der Erlösung durch Jesu Auferstehung vom Tod. Sie geht uns vielleicht nicht mehr buchstäblich ‚unter die Haut‘. Das sollte sie aber! Denn vielleicht – und sehr zu unserem Unverständnis – übergehen wir zu rasch die Erfahrung, dass vor der Auferstehung Jesu Leiden und Kreuz standen. Er hatte dies zu bestehen, ein Ausweichen und feiges Wegducken war SEIN Ding nicht! Wenn wir in die heutige Welt schauen, in die Ukraine, in das ‚Heilige Land‘, indem so viel Hass und Not herrschen, in die vielen Kriegsschauplätze, in die Länder der so genannten ‚Dritten Welt‘, die abgeschnitten sind vom Fortschritt unserer EINEN WELT, wenn wir sehen, wie auch heute SEINE Schöpfung tagtäglich geschändet wird auf Kosten der nächsten Generationen und der heutigen Um- und Mitwelt, dann kommt einem unwillkürlich die Frage in den Sinn: GOTT-WO BIST DU? Es ist dies jene Frage, die Simone Weil nicht zur Ruhe kommen ließ und ich bin Karl Rahner dankbar für sein hilfreiches Wort über diese Frau, die er gar nicht anders sehen konnte als in ihrem unablässigen Ringen mit und um Gott:
„Der Glaubende wird aber aus eigener Erfahrung alles Verständnis für einen ‚bekümmerten‘ Atheisten haben, für einen der verstummt vor dem finsteren Rätsel des Daseins. Man kann ruhig mit Simone Weil sagen, dass von zwei Menschen, die beide keine echte Erfahrung Gottes gemacht haben (und das mag auch von schrecklich vielen gelten, die sich Christen nennen), derjenige, der ihn leugnet, vielfach Gott näher ist als der, der von ihm nur in gesellschaftlichen Klischees daherredet. Ein solcher ist Gott deshalb näher, weil die unerfüllte metaphysische Sehnsucht (sofern diese wirklich da ist und man sich ihr aussetzt, sie bekümmert ausgelitten wird und nicht nochmals narzisstisch genossen wird) insgeheim mehr von Gott weiß als der sogenannte ‚Gläubige‘, der meint, Gott sei eine Frage, mit der er schon längst fertig geworden sei.“ 3
Der ‚transzendentale Grund dafür, dass Menschen Rechte und Pflichten haben.‘
Das alles führt mich weiter zu der Frage nach dem Menschsein im Hier und Heute und nach der Zukunft unserer menschlichen Gemeinschaft. Denn:
„Dass unsere Zukunft gelingen kann, ist…nicht selbstverständlich…Es bedarf auch der mahnenden und drängenden Begleitung der Religionsgemeinschaften; es bedarf der klaren Werteorientierung, wie sie Papst Franziskus …in seiner Enzyklika Laudato si‘ zum Ausdruck gebracht hat. Es bedarf aber auch, angesichts der Größe der Herausforderung, einer Transformation unseres Denkens und Handelns. Das ist vielleicht der provozierendste Punkt des Buches – aber sicherlich einer, der die Debatte um die Zukunft unserer Kinder und Enkel willen lohnt.“ 4
Und:
„Freiheit begründet die Würde und die Ausnahmestellung des Menschen; wäre er in allem determiniert und festgeschrieben, hätte die Rede von der Würde keine Bedeutung. Es gibt keine Würde ohne Freiheit…Die Würde des Menschen ist weder empirisch feststellbar noch ist sie ein Recht. Sie ist vielmehr, wie es Robert Spaemann einmal ausgerückt hat, der >>transzendentale Grund dafür, dass Menschen Rechte und Pflichten haben. << 5
Gewissen als letzte Norm?
Die Würde des Menschen ist der Grund dafür, dass Menschen Rechte und Pflichten haben. Dieser Satz des Philosophen Robert Spaemann (1927-2018) macht mich sehr nachdenklich. Ist uns das heute überhaupt noch bewusst? Wissen wir noch etwas vom Menschen, das über seinen Nutzen, seinen ‚Wert‘ als Konsument, Verbraucher und ‚Kostenfaktor‘ hinausgeht? Nicht (nur) in wohlfeilen Sonntagsreden, sondern im Alltag, im Hörsaal, an der Werkbank, im Home-Office der Verwaltungsstuben, im politischen Ringen, im Marketing der besten Produkte, die doch möglichst viel und möglichst rasch ‚an den Mann und die Frau gebracht werden sollen‘? Wo spielen Menschenwürde, Gottebenbildlichkeit, Kirche, Erlösung, Evangelium noch eine Rolle? Wo und wie werden die menschlichen Rechte und Pflichten noch begründet (Werden sie überhaupt noch begründet?), wenn der „transzendentale Grund“ hierfür verlorengegangen zu sein scheint? Wie steht es mit dem Gewissen, das als letzte Norm verbindlich gilt, wenn ‚der Markt‘, Luxus, Macht und der Fetisch Geld die allesbestimmende Wirklichkeit darstellen? Wenn sie den ‚Platz Gottes‘ als der alles bestimmenden Wirklichkeit (längst) eingenommen haben.
Mir scheint, der Auftrag der Kirche im Hier und Heute und auch (erst recht!) für die Zukunft kann gar nicht überschätzt werden in seiner Relevanz.
„Gewiss muss die Kirche ein unter schrecklichen Schmerzen gewonnenes Bleibendes in diesem neuzeitlichen Individualismus verteidigen: die Freiheit des Gewissens, und zwar auch dort, wo es sich gegen die Kirche selber wendet und dies nicht bloß aus einer bürgerlichen Toleranz, die der Kirche von außen her aufgezwungen ist, sondern aus einem radikalen Verständnis ihrer selbst. Aber wenn wir einer höher sozialisierten Gesellschaft entgegengehen, wenn diese dennoch eines gemeinsamen Ethos‘ nicht entraten können wird – soll sie nicht zu einer materialistischen Technokratie entraten -, dann wird – von aller Kirche zunächst abgesehen – eine Gesellschaft der Zukunft vor die Frage gestellt sein, wie sie dieses gemeinsame Ethos als verbindlich für alle ihre Glieder fordern kann, ohne darum die echte Freiheit des Einzelnen zugunsten einer gesellschaftlichen Zwangsideologie und Zwangsindoktrination aufzuheben oder zu gefährden, wie sie eine Wahrheit haben kann, die frei macht und frei sein lässt, ohne den Menschen in die leere Beliebigkeit zu verstoßen, in der der Einzelne und die Gesellschaft nicht leben können.“ 6
- Karl Rahner „Vom Glauben inmitten der Welt“, Freiburg-Basel-Wien 1961 ↩︎
- Karl Rahner „Vom Glauben inmitten der Welt“, Freiburg-Basel-Wien 1961, S. 104 f ↩︎
- Karl Rahner „Gnade als Freiheit“, Freiburg-Basel-Wien 1968, S.20 f ↩︎
- Volker Kauder in Matthias Zimmer „Nachhaltigkeit! – Für eine Politik aus christlicher Grundüberzeugung- Freiburg-Basel-Wien 2015, S. 11 ↩︎
- Matthias Zimmer „Nachhaltigkeit! – Für eine Politik aus christlicher Grundüberzeugung“ – Freiburg-Basel-Wien 2015, S.127 ↩︎
- Karl Rahner „Gnade als Freiheit“, Freiburg-Basel-Wien 1968, S. 142 f ↩︎