Das Eugen Drewermann – Lesebuch[1]
Eugen Drewermann schreibt schneller und mehr als ein normaler Mensch lesen kann. Es gibt kaum ein Gebiet, über das er sich nicht mit umfangreichem Sachwissen äußert. Und so kann man nur dankbar sein über Bücher, die die vielen Facetten seines umfassenden Werkes aufbereiten und die wesentlichen Sachzusammenhänge herausarbeiten. In vielen Interviews übernimmt Eugen Drewermann selbst diese Aufgabe. Exemplar hierfür sei seine ‚Bilanz‘ genannt: „Wir glauben, weil wir lieben“.[2] Von den Büchern, die die Grundlinien und Grundintentionen seines Schaffens herausarbeiten fallen mir spontan drei kleinere Werke ein: „Das Wichtigste im Leben“[3] – Worte mit Herz und Verstand, herausgegeben von Ulrich Peters, „Im Einklang leben“[4] – Worte zur Schöpfung, herausgegeben von Heribert Körlings und „An der Quelle des Lebens“[5] – Worte mit Herz und Verstand, ebenfalls von Heribert Körlings herausgegeben. In diesem Kontext sticht ein Werk besonders hervor: Das Eugen Drewermann – Lesebuch, herausgegeben von Jörg Fündling und Heribert Körlings. Warum ist dieses Buch so besonders? Weil es eine gute erste und gleichzeitig umfassende Orientierungshilfe liefert bei einem Autor, der nach wie vor in seiner ‚Produktion‘ über unendliche Ressourcen zu verfügen scheint.
Schon die Gliederung dieses Lesebuches ist aufschlussreich. Vermittelt sie doch in kurzen Stichworten, worum es Eugen Drewermann in all seinen Arbeiten hauptsächlich geht: Um den Umgang mit der Angst (I), um die Frage des Vertrauens (II), um die Not und das Leid (III). Die Frage der Liebe im Leben ist ganz zentral (IV) für den Autor, der immer dann am überzeugendsten wirkt, wenn er Glaube, Hoffnung und Liebe als jene Haltungen umfassend erläutert, ohne die wir als Menschen nicht (über)leben können. In diesen Vollzügen (nicht außerhalb von ihnen!) ‚verortet‘ Drewermann Glaubens-und Gotteserfahrungen. Die Hinführung zum Werk Drewermanns mündet ein in die Frage, wie wir miteinander leben (V).
In diesen fünf großen Blöcken wird der Leser behutsam an das ‚literarische Gebirge‘ von Eugen Drewermann heran- und zielgenau hindurchgeführt. Es ist unmöglich, diese Aussage umfassend zu erläutern, zwei, drei kleine Beispiele mögen dafür stehen.
Beispiel 1: Was ist das Besondere am Christentum? Antwort Eugen Drewermanns: „In der Tat liegt die Einzigartigkeit des Christentums nicht in seinen Glaubenssymbolen an sich… Einzig das Christentum hat den Begriff der Person in seiner Unableitbarkeit theologisch zum Zentralthema seiner Selbstauslegung erhoben…Insofern ist das Christentum an die historische Einmaligkeit der Gestalt seines Gründers gebunden, und insofern stellt es selbst eine historisch einmalige und unvergleichliche Religionsform dar.“ (268)
Beispiel 2: Kann man Gott trauen? Antwort Eugen Drewermanns: „Die Zusagen Gottes lassen sich nur verstehen, wenn man Gott liebt, nicht aber, wenn man distanziert abseitssteht und Gott gewissermaßen ausbeuten will für seine äußeren Ziele und Absichten.“ (152)
Wer sieht hier nicht die große Tragödie unserer Zeit, den weitgehenden Ausfall der Gottesfrage, die Gleichgültigkeit gegenüber Religion, Glaube, Kirche ‚diagnostiziert“? Jene Gleichgültigkeit, die meint, existentielle Fragen seien spielerischer Luxus, den man sich nicht leisten kann, der dem ‚Tat-Menschen‘ ‚eh nichts bringt‘ und deshalb reine Zeitverschwendung ist. Und wie fatal ist das Ergebnis mit seinen Auswirkungen! So genannte ‚Fake news‘, Verschwörungsmythen und eine – oft unreflektierte – reine ‚Haben – Kultur‘ sind die äußeren Ausdrucksformen dieser inneren Haltung, die sich bei näherer Betrachtung als unsolidarische und maßlos überzogene Anspruchshaltung zu erkennen gibt? All das ist ja in seinem Zusammenhang unschwer auszumachen, aber nur dann, wenn man solche Überlegungen gelten lässt und sie nicht von vornherein abweist. Diese Realität ist von Eugen Drewermann mustergültig und ausführlich beschrieben worden in und als „Strukturen des Bösen“[6]: Wenn der ‚Thron Gottes‘ nicht freigehalten, sondern ‚besetzt‘ wird von etwas, das nicht Gott ist, aber göttliche Ansprüchen geltend macht, dann sind diese ‚Strukturen‘ unausweichlich, zwangsläufig. Das kann, das sollte man bei Eugen Drewermann – und zwar immer wieder – nachlesen. Es gibt kaum eine bessere und nachvollziehbarere Begründung für das Erfordernis von Glaube, Hoffnung und Liebe- um der Menschen willen!
Und wer wird nicht bei dieser ‚Auskunft‘ Drewermanns auch an den eindringlichen Aufsatz Karl Rahners erinnert: „Die unverbrauchbare Transzendenz Gottes und unsere Sorge um die Zukunft“?[7] Er hat an Gültigkeit und Aktualität nichts eingebüßt, ganz im Gegenteil! Hier wird man sagen können: „Wie sich die Häupter zuneigen.“
Beispiel 3: Wann offenbart sich Gott? Antwort Eugen Drewermanns: „Wir sehen uns zu der Ansicht gedrängt, dass die gesamte Schöpfung eine einzige Form der Selbstmitteilung Gottes darstellt…Es gab nie eine Zeit und es wird nie eine Zeit geben, da Gott nicht ist. Im Gegenteil: Er umgibt uns zu jeder Zeit wie das Licht, wie die Luft, und immer wieder treten Menschen auf, die angstfrei und offen genug sind, um den Wind der Freiheit zu atmen und das Licht der Liebe in ihr Herz aufzunehmen.“ (70)
An diesen kleinen Beispielen, die um zahllose andere vermehrt werden können, wird deutlich, in welch einfachen Worten Eugen Drewermann die Botschaft der Kirche von der liebenden, vergebenden Selbstmitteilung Gottes so sagen und schreiben kann, dass sie von jedermann und jeder Frau verstanden wird.
Mein Dank geht auch an die beiden Herausgeber: Es ist ihnen gelungen, die wichtigsten ‚Bausteine‘ des Werkes von Eugen Drewermann so zu vermitteln, dass Freude und Lust stetig wachsen, auch den gesamten ‚Bau in Augenschein‘ zu nehmen, dem nichts mehr zuwiderläuft als ein unkritisches ‚Nachlaufen‘. Das umfangreiche Werk Eugen Drewermanns kann man sich nur in durchaus mühevoller, aber lohnender, wohlwollend-kritischer Arbeit aneignen. Und man sollte bei diesem Tun nie vergessen, dass Eugen Drewermann sich selbst in seinem ‚Erstling‘ „Strukturen des Bösen“ [8]ein tragfähiges Fundament für seine weitere Arbeit gelegt hat. Man wird ihn nicht recht verstehen können, wenn man dieses Grundlagenwerk sich nicht immer wieder vor Augen führt. Es zeichnet dieses Tagebuch aus, dass es Texte aus diesem ‚Fundament Drewermanns‘ immer wieder anführt, sich auf sie bezieht und die vielfältigen Linien im Werk Drewermanns nachzeichnet.
Rudolf Hubert
Schwerin, den 15.06.2024
[1]Das Eugen Drewermann-Lesebuch, Düsseldorf 2009, herausgegeben von Jörg Fündling und Heribert Körlings. Die in Klammern gesetzten Zahlen beziehen sich auf die Seitenzahlen dieses Buches.
[2] Eugen Drewermann „Wir glauben, wie wir lieben“ – Woran ich glaube, Ostfildern 2010
[3] Eugen Drewermann „Das Wichtigste im Leben“, herausgegeben von Ulrich Peters, Ostfildern 2015
[4] Eugen Drewermann „Im Einklang leben“, herausgegeben von Heribert Körlings, Ostfildern 2017
[5] Eugen Drewermann „An der Quelle des Lebens“, herausgegeben von Heribert Körlings, Ostfildern 2020
[6] Eugen Drewermann „Strukturen des Bösen“, I – III, Paderborn-München-Wien-Zürich 1977/1978
[7]Karl Rahner „Schriften zur Theologie“, Band IV, Zürich-Einsiedeln-Köln 1980, S. 405 ff – auch SW 29, S. 67-78
[8] Eugen Drewermann „Strukturen des Bösen“, I – III, Paderborn-München-Wien-Zürich 1977/1978 – Dieses Werk wurde breit diskutiert. Es erschien mit kirchlicher Druckerlaubnis; zu ihm hat sich Eugen Drewermann immer wieder – und mit Nachdruck – bekannt. Ich darf eine Stelle hier zitieren: „Eben deshalb habe ich gut vorgebaut und in meinem Hauptwerk über <<Strukturen des Bösen>>… eine ausführliche Interpretation der Erbsündenlehre all meinen weiteren Arbeiten vorangestellt. Wohlgemerkt sind diese drei Bände einzig dem Ziel gewidmet…die Unentrinnbarkeit des Bösen im Getto der Gottesferne zu beschreiben und zu begründen.“ – Eugen Drewermann: „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“, Olten und Freiburg im Breisgau 1988, S. 10