Beten und Leben

„Beten und Leben als Fragen nach der göttlichen Führung sind dasselbe.“ [1]

Eine kleine Betrachtung zum Gebet in den Spuren Karl Rahners

In einer Zeit, die uns fassungslos macht angesichts von Gewalt und Lügen, fragen sich viele Menschen, was noch gilt. Was trägt überhaupt noch? Woran kann man sich halten? Wie ist das mit dem Glauben? Ist er überhaupt noch relevant oder kommt er nicht mehr vor? Ist er womöglich verdunstet wie Morgennebel in der Sonne, wo nicht einmal mehr eine Leerstelle bleibt, die anzeigt, dass hier einmal etwas war? Sind – um in einem Bild Reinhold Schneiders zu sprechen – alle unsere Häuser abgebrannt und wir haben nicht einmal mehr die Schlüssel zu ihren Türen aufbewahrt? Wie ist es mit dem ‚Gebet‘? Ist es tatsächlich mehr als eine wirkungslose frömmelnde ‚Zauberformel‘, die unverständlich (geworden) ist und aus Angst und Trauer herausführen soll? Die erkennbar auf Unwissenheit und Unmündigkeit beruht? 

Seine dunklen Nächte fragen nach Gott

Fragen über Fragen. Einen ersten Fingerzeig zur Orientierung in diesem Gewirr von Fragen und Meinungen verdanke ich Joseph Ratzinger / Papst Benedikt XVI., der bereits im Jahr 1977 angesichts vieler Fragen und Umbrüche in der Kirche schrieb:

„Nur wer noch halb im Gestern lebt, empfindet den Glauben als Bedrückung, als Gefahr. Nur wer noch halb im Gestern lebt, muss ihm die Zukunft streitig machen. Wer das Gestern abstreift und sich dem nackten Heute ausgesetzt findet, entdeckt, dass die Welt das Heilige braucht. Seine dunklen Nächte fragen nach Gott.“ [2]

Diese ‚Diagnose‘ der kirchlichen Situation ist für mich hilfreich auch heute, wenn ich auf die gesellschaftliche Situation in unserem Land und auch global schaue. „Seine dunklen Nächte fragen nach Gott“ – wie wahr, möchte man da ausrufen! 

Hat unser Glaube eine Zukunft?

Eine weitere Hilfe kommt mir aus dem Buch von Eugen Drewermann „Hat der Glaube Hoffnung?“  entgegen. Mir scheint, dass es kein Zufall ist, dass das Jahreslesebuch von Joseph Ratzinger zur Jahrtausendwende erschien wie auch dieses Buch „Hat der Glaube Hoffnung?“ Es ist ja vielleicht die Frage an den Glauben, ob er noch relevant ist, ob er uns noch etwas sagen kann und sagt zu all dem, was wir erleben. Erleben an Schönem und Freudigem aber auch an Bedrückendem und Sorgenvollem. Hat unser Glaube (überhaupt) eine Zukunft? Kann er Hoffnung vermitteln angesichts einer Welt, wie sie nun mal ist oder kann er es nicht? Vieles, wenn nicht sogar alles hängt an dieser Frage! Ob sie eine Antwort im wirklichen Leben findet und wie diese ausfällt, das macht unseren Glauben oder Unglauben aus. Und es ist nicht ausgemacht, ob der Glaube oft nicht dort eher zu finden ist, wo Menschen als  ‚bekümmerte Atheisten‘[3] versuchen, mit dem Leben irgendwie fertig zu werden als bei Menschen, die meinen, sie wüssten schon,  wie es mit Gott, Glaube und Kirche geht.  

Nach den vielen Erwägungen und Durchblicken in dem Buch „Hat der Glaube Hoffnung?“, wie man es von Eugen Drewermann gewohnt ist, kommt er zu einem ‚Fazit‘, das sich wie ein großer, umfassender Schlussakkord anfühlt: 

„Die letzte Antwort auf all die psychologisch gerade bei besonders sensiblen und introspektionsfähigen, bei <<berufenen>>Menschen so überdeutlich erlebten Gründen zu Selbstzweifel und Selbstverachtung lässt sich, ganz wie die Bibel es in der Vorbildgestalt des MOSES schildert, gewiss niemals rein psychologisch finden, sondern nur in einem Vertrauen, in allem, im Licht wie im Schatten, leben zu können und leben zu dürfen. Wo dieses Vertrauen sich bildet, da allemal ergreift, jenseits dessen, was Menschen einander zu sagen vermögen, Gott selbst das Wort in Zuspruch und Widerspruch, im Ja zu uns selbst und im Nein zu all dem, was in uns und um uns, verneint, was wir sind…Setzen wir, dass der Prophet der Wahrheit, der Therapeut dem Erkennen und der Dichter dem Glück des Lebens Ausdruck gibt…so verstehen wir, auf welche Weise Gottes <<Wort>> in unsere Herzen Eingang finden kann.“[4]

Aber dennoch ist Gott

Nicht nur die Psychologie, auch viele andere anthropologische Erkenntnisse können vermitteln, dass ein Leben ohne ‚Gott‘ in „Strukturen des Bösen“[5] zwangsläufig enden muss. Und umgekehrt: Was mit ‚Gott‘ gemeint ist, geht erst auf, wenn wir uns ganz aussprechen. Das wird ein Leben lang so gehen. Und immer werden wir die „Unverbrauchbarkeit der Transzendenz Gottes“ (Karl Rahner) realisieren (müssen), denn so Karl Rahner: 

„Es gibt keinen Gott, der als Einzelner in der Lichtung unseres Daseins herumstolpert und durch die elektrisch geladenen Drähte unserer Einzelwissenschaften entdeckt werden könnte. Aber dennoch ist Gott, und wir haben schon mit ihm zu tun, wenn wir dies sagen und selbst wenn wir erklären, das Unternehmen, mit ihm zu tun zu haben, sei undurchführbar. 

Wir müssen den Sprung nach vorn machen. Wir müssen einfach mit ihm handeln, uns auf ihn hin loslassen…dann, aber auch nur so, begreifen wir, dass das begrifflich Unmögliche möglich ist, weil es ist.“[6]   

Die Fragwürdigkeit Gottes

Dieser „Sprung“ des Glaubens – wie kann er gelingen? Wie ist das Wagnis des Glaubens möglich in einer Welt, die offensichtlich nur noch wenig mit ‚Gott‘ anfangen kann? Für die die Frage nach Gott oft gar keine mehr ist. Die Fragwürdigkeit Gottes ist allerdings nicht so eindeutig, wie es auf den ersten Blick scheint, denn immerhin scheint er der Frage (noch) würdig zu sein. Dort – und nur dort! – wo dieses Faktum greift, ist ein Glaubensgespräch möglich. Darum auch die Vorliebe Karl Rahners für den ‚bekümmerten Atheisten‘.  Die Botschaft des Glaubens – übrigens in allen Weltreligionen – gibt von all diesen Fragen und Zweifeln Zeugnis. Man lese nur einmal in den Psalmen des jüdischen Volkes, um zu spüren, wie lebendig die Gotteserfahrung erlebt und ausgesprochen worden ist. Leben und Glauben waren (und sind!) keine getrennten Wirklichkeitsbereiche. Und nun: In der einen Wirklichkeit gibt es das, was wir Gebet nennen. 

Zu Gott Du sagen

„Wir gehen von der Wirklichkeit solchen anbetenden Anredens aus und haben von daher das Wesen des Menschen zu bestimmen: Er ist der, der zu Gott Du sagen kann; seine Endlichkeit und seine Abhängigkeit sind derart, dass sie in Selbständigkeit offen sind auf Gott als den Partner, den Partner freilich, dem der Mensch sich gerade im Gebet übergibt als der, der alles von dem hat, den er anredet, selbst das Anredenkönnen und das Anreden selbst…Wenn wir … den Mut finden…hoffend und vertrauend Du zu rufen, wenn wir es immer wieder tun, wenn wir nicht anmaßend verlangen, dass sofort auf diesen Ruf…eine partikuläre Antwort kommt…dann merken wir, dass man Du zu Gott sagen kann, sich selbst in Vertrauen lassend und so wartend auf den Augenblick, da dieses Geheimnis unseres Daseins sein Antlitz unverhüllt zeigen wird als die ewige Liebe, die ein unendliches Du zu Du ist.“ [7]

Lohnt sich beten?

Der ‚Ernstfall des Glaubens‘ ist das Gebet. Doch ist das Gebet wirklich sinnvoll? Wird es erhört, so dass man sagen kann, dass Beten sich ‚lohnt‘? Oder hat man das Wesen des Gebetes verkannt, wenn man die Frage so stellt nach der Erfüllung dessen, um was gebetet wird? Eugen Drewermann schreibt zum Gebet: 

„Alles Beten hat nur den Zweck, nach und nach ein Vertrauen zu üben, das nicht mehr an <<Gegenstände>> oder an <<Zustände>> geheftet bleibt, sondern das unbedingt gilt. Am Ende gibt Gott niemals <<etwas>>, sondern sich selbst. Und zu dieser Erfahrung soll all das führen, was wir ein <<Bittgebet>> in JESU Namen heißen.“[8]

Man möchte meinen: „Wie sich die Häupter zuneigen“, denn bei Karl Rahner liest es sich ganz ähnlich:

„Bittgebet ist nur dann Gebet und sinnvoll vor Gott, wenn es mit dem Willen zu einem bestimmten und sogar irdisch einzelnen Gut, das erbeten wird, zugleich die absolute Übergabe des Menschen an den souverän verfügenden Willen Gottes ist.“ [9]

Angesichts dieser ‚theologischen Auskunft‘ wird man weiterfragen (müssen), wie es beispielhaft Eugen Drewermann am Ende seines Buches „Wendepunkte“ getan hat: 

„Ist das alles nicht zu <<subjektiv>>, zu <<psychologisch>> und zu wenig <<wirklich>>?“[10]

Doch Drewermann stellte diese Grundsatzfrage nur, um auf sie sogleich zu antworten: 

„ Ein solcher Einwand…beruht an jeder Stelle auf dem gleichen Missverständnis: Nichts in der Welt… ist mit Gott identisch; doch ganz so wie das Aufblühn einer Blume nicht möglich wäre ohne Sonnenlicht, so wenig ist Selbstfindung, partnerschaftliche Beziehung, Liebe möglich ohne Gott…Alles, was in der Verwandlung des Daseins, in seiner <<Erlösung>> von Angst und Verzweiflung in Zuversicht und Identität sich ereignet, verdankt sich…einzig der Erfahrung eines Umgriffenseins und Ergriffenseins im ganzen.“[11]

Existentielle Grunderfahrung

Die „Erfahrung eines Umgriffenseins und Ergriffenseins im ganzen“ – vielleicht ist dies die Grunderfahrung jedes Beters und jedes echten Gebetes, das nicht eigene Wünsche auf ‚Gott‘ projiziert und IHN ablehnt, wenn die Wünsche nicht, wie erhofft in Erfüllung gehen. Karl Rahner und Hans Urs von Balthasar haben diese existentielle Grunderfahrung in Gebeten und Meditationen eindrucksvoll bezeugt:  

„Dank deiner Barmherzigkeit, du unendlicher Gott, dass ich von dir nicht bloß weiß mit Begriffen und Worten, sondern dich erfahren, erlebt und erlitten habe. Denn die erste und letzte Erfahrung meines Lebens bis du. Ja wirklich du selber, nicht dein Begriff, nicht dein Name, den wir dir geben…Du hast mich ergriffen, nicht ich habe dich ‚begriffen‘, du hast mein Sein von seinen letzten Wurzeln und Ursprüngen her umgestaltet, du hast mich deines Seins und Lebens teilhaftig gemacht, dich mir geschenkt, dich selber, nicht bloß eine ferne undeutliche Kunde von dir in Menschenworten. Dich kann ich darum nicht vergessen, weil du ja die innerste Mitte meines Wesens geworden bist.“ [12]
„Was habe ich also anders dir von dir zu sagen, als dass du der bist, ohne den ich nicht sein kann…und wenn ich das von dir sage, dann habe ich mir meinen wahren Namen gegeben…  Ich bin der, der sich nicht selbst gehört, sondern dir. Mehr weiß ich nicht von mir, mehr nicht von dir – Du -, Gott meines Lebens, Unendlichkeit meiner Endlichkeit.“[13]
„Bin ich als Ganzer das Nachbild dieses Urbilds, so dass ich mich selber gar nicht denken kann, ohne an Ihn zu rühren?… Cogitor, ergo sum: Er denkt mich, darum bin ich.“[14]

Er denkt mich, darum bin ich

Karl Rahner hat diese geistliche Grunderfahrung: „Dich kann ich darum nicht vergessen, weil du ja die innerste Mitte meines Wesens geworden bist“, theologisch auch in einer Weise bedacht, die nicht nur für ein Grundverständnis des christlichen Glaubens unerlässlich ist. Sie rückt damit die Aussage aus der Kreuzwegmeditation Hans Urs von Balthasars „Cogitor, ergo sum: Er denkt mich, darum bin ich“, die ja durchaus als glaubensmäßiger Kontrapunkt zum neuzeitlichen Ausgangspunkt von Descartes „Cogito, ergo sum“ verstanden werden kann, in die umfassende Perspektive der Schöpfungs-und Erlösungsordnung ein.   

„Wenn sich durch Geist und Gnade in einem der Mensch als der von Gott sich selbst Gesagte erfährt und dies sein eigentliches Wesen ausmacht, zu dessen Konkretheit auch die freie Gnade der Selbstmitteilung Gottes gehört, und wenn er diese Existenz als Wort Gottes, in dem Gott sich selbst mit seinem Wort dem Menschen zusagt, im Gebet vorlässt und frei annimmt, dann ist das Gebet schon …dialogisch, Zwiesprache mit Gott. Der Mensch hört dann sich selbst als Anrede Gottes, die durch Glaube, Hoffnung und Liebe in der gnadenhaften Selbstmitteilung Gottes mit Gottes Selbstzusage erfüllt ist.“ [15]

Es ist sicher kein Zufall, dass eines der bekanntesten Werke Karl Rahners darum auch „Von der Not und dem Segen des Gebetes“[16]handelt.  Wer die Gebetstheologie Karl Rahners ernst nimmt und beherzigt, kommt schwerlich um das geistliche Erbe Karl Rahners umhin, das Ralf Miggelbrink präzise beschreibt:

„Beten und Leben als Fragen nach der göttlichen Führung sind dasselbe.“ [17]

Das Gebet ist der „Ernstfall des Glaubens“, denn nur im Gebet, im realen Vollzug, erweist es sich –  nicht nur, ob der Glaube der Wirklichkeit standzuhalten vermag –  sondern dass er ihr standhält. Ja, dass ohne ihn alles unverständlich wird. Letztlich ist der Glaube, der das Gebet trägt wie es von ihm getragen wird, eine einzige Hoffnungs-und Lebensoption, denn: 

„Wenn das Christentum die mit absolutem Optimismus geschehende Inbesitznahme des Geheimnisses des Menschen ist, welchen Grund sollte ich dann haben, kein Christ zu sein?“[18]

Darum soll am Ende dieser Betrachtung ein Gebet stehen, das die Not des Gebetes ernst nimmt und das den Segen vermittelt – freilich nicht im Reden darüber, sondern im Beten selber, denn

„Wir sind unterwegs, Wanderer zwischen zwei Welten. Weil wir noch auf Erden wandeln, lasst uns bitten um das, was wir auf dieser Erde brauchen. Da wir aber Pilger der Ewigkeit auf dieser Erde sind, lasst uns nicht vergessen, dass wir nicht so erhört werden wollen, als ob wir hier eine bleibende Stätte hätten…“[19]

[1] Ralf Miggelbrink „Ekstatische Gottesliebe im tätigen Weltbezug“, Altenberge 1989, S. 286

[2]Joseph Ratzinger/ Benedikt XVI. „Berührt vom Unsichtbaren“, Freiburg-Basel-Wien 2000/ 2005, S. 327 – ursprünglich aus „Dogma und Verkündigung, München 1977, S. 438 ff

[3] Ein Lieblingsausdruck Karl Rahners über Menschen, die an der Welt, an der Gesellschaft, an der Geschichte, an der Kirche – letztlich an Gott leiden. Vgl.  beispielhaft Karl Rahner „Rechenschaft des Glaubens“ Freiburg-Basel-Wien/ Zürich – Köln 1979, S. 143 und 171

[4]Eugen Drewermann „Hat der Glaube Hoffnung?“, Düsseldorf-Zürich 2000, S. 290-293

[5] Buch von Eugen Drewermann in drei Bänden – Paderborn 1977/78 

[6] Karl Rahner/ Karl Heinz Weger „Was sollen wir noch glauben?“ Freiburg-Basel-Wien 1979, S. 80

[7] Karl Rahner „Praxis des Glaubens“, Freiburg-Basel-Wien 1982, S. 140 f/ SW 23, 188-201

[8] Eugen Drewermann „Hat der Glaube Zukunft?“, Düsseldorf-Zürich 2000, S. 45

[9] Karl Rahner „Praxis des Glaubens“, Freiburg-Basel-Wien 1982, S. 143 /SW 23, 188-201

[10] Eugen Drewermann „Wendepunkte“, Ostfildern 2014, S. 498

[11] Eugen Drewermann „Wendepunkte“, Ostfildern 2014, S. 498

[12] Karl Rahner SW 7, S. 15 f; ursprünglich aus „Worte ins Schweigen“, Innsbruck-Leipzig 1938, aus „Gott der Erkenntnis“, S. 44 f 

[13] Karl Rahner „Gebete des Lebens“, SW 7, S. 5 f – ursprünglich aus „Worte ins Schweigen“, Innsbruck-Leipzig 1938 (!), dort aus „Gott meines Lebens“, S. 12 f

[14] Hans Urs von Balthasar, Kreuzweg in der St. Hedwigs-Kathedrale zu Berlin, S. 14 (VI. Station), Leipzig 1964

[15] Karl Rahner „Praxis des Glaubens“, Freiburg-Basel-Wien 1982, S. 151 f/ SW 23, 216-224 

[16] Vgl. SW 7

[17] Ralf Miggelbrink „Ekstatische Gottesliebe im tätigen Weltbezug“, Altenberge 1989, S. 286

[18] Karl Rahner „Über die Möglichkeit des Glaubens heute“ SW 10, 578

[19] Karl Rahner „Beten mit Karl Rahner“, Freiburg, 2004, Band 1 „Von der Not und dem Segen des Gebetes“, S.129, SW 7, 84

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