Allerheiligen-Allerseelen – Wohin sind wir unterwegs?

Grundlegende Fragen

Es ist Herbst. Die Blätter färben sich bunt und fallen von den Bäumen. Die Tage werden kürzer, die Temperaturen sinken und man fühlt sich am wohlsten zu Hause, in der warmen Stube mit lieben Menschen. Das Kirchenjahr greift diese Stimmung auf. Fast am Ende jedes Kirchenjahres feiern die katholischen Christen Allerheiligen und gedenken an Allerseelen ihrer lieben Verstorbenen. Mit sanftem Druck zwingt uns die Kirche am Ende des Kirchenjahres noch einmal, uns grundlegenden Fragen zu stellen: Wie ist das mit dem Glauben überhaupt? Worauf bauen wir? Was bleibt, wenn „alle anderen Sterne verlöschen“? 1 Wie ist das mit Tod und Auferstehung? Nach Paulus ist alles umsonst, wenn es keine ‚Auferstehung‘ gibt. Und wie viele Menschen wünschen sich ein Wiedersehen mit ihren Lieben? Doch ist das alles nicht ein schöner, aber sinnloser Traum? Ein Traum, der der harten Wirklichkeit nicht standhält? 

Religionskritik

Ist es nicht dieser Vorwurf, der durch die ganze Religionsgeschichte ‚geistert‘: Menschen des Glaubens halten die Wirklichkeit nicht aus. Sie wünschen sich etwas, was es nicht gibt. Nicht geben kann, denn – so der Vorwurf nicht erst seit Ludwig Feuerbach – die Menschen staffieren ‚Gott‘ lediglich mit ihren Wünschen und Hoffnungen aus, so dass es sich bei dem, was mit GOTT gemeint ist, lediglich um reine Wunschvorstellungen handelt. Vielleicht auch um – durchaus verständliche – Trostvorstellungen und Beruhigungen der Angst vor Unglück, Leid und Tod. Und – so verständlich, dass alles ist – so wenig real ist es! Mit der Wirklichkeit hat so etwas wie ‚Glaube‘ herzlich wenig zu tun!  Gewiss, Menschen brauchen diesen Trost, um im ‚irdischen Jammertal‘ klarzukommen. Aber Wirklichkeit – Fehlanzeige!

Wir müssen durch den ‚Feuer-Bach‘ hindurch

Marx und seine Nachfolger gingen noch weiter, indem sie vom ‚Opium‘ sprachen. Menschen sollten ‚benebelt‘ werden, um ihre eigenen Interessen nicht weiter im so genannten ‚Klassenkampf‘ zu verfolgen. Und der Pastorensohn aus Röcken, Friedrich Nietzsche, meinte – und vielleicht hat er tatsächlich ziemlich genau manche seiner Zeitgenossinnen und Zeitgenossen beobachtet – dass Religion nur etwas sei für ‚Schwache‘. Für jene, die sich im Leben benachteiligt fühlen, die sich zu klein, zu unbedeutend vorkommen. Sie brauchen die Religion, um wenigstens damit den ‚Starken‘- denen, die das Leben meistern, die im Leben einen Platz einnehmen, den sie gerne hätten, aber nicht haben- wenigstens insofern ‚überlegen‘ zu sein, dass es ihnen gelingt, ihnen ein schlechtes Gewissen einzureden. 

Glaube, der Nächstenliebe impliziert, ist demnach etwas für diejenigen, die sie nur auf diesem Wege erhalten, ja einfordern können. Weil sie der Meinung sind, dass all dies – Anerkennung, Wohlstand, Aus- und Einkommen-  ihnen vorenthalten wird von denen, die das Leben ‚in vollen Zügen genießen‘, ohne sich um das Wohl und Wehe der anderen zu kümmern.  Derjenige aber, der das Leben genießt, der braucht keine Religion. Wozu? Das Leben ist dazu da, dass jeder sich nimmt, was er kriegen kann. Alles andere – so Nietzsche – ist ‚Moralisieren‘, das Einreden eines ‚schlechten Gewissens‘ all jener, die meinen, im Leben ‚zu kurz gekommen‘ zu sein. 

„Der Fels des Atheismus“

Der „Fels des Atheismus“ ist das Leid (Büchner). Und so sind es vor allem auch die großen Denker und Schriftsteller, die mit Gott ‚abrechnen‘: Dostojewski will angesichts des Leids und des Elends die „Eintrittskarte in das Leben“ zurückgeben. Und ähnlich wie Dostojewski weigert sich auch Albert Camus standhaft, an einen liebenden Gott zu glauben, solange Kinder in dieser seiner ‚Schöpfung‘ gemartert werden. 

In seinem Buch „Grenzgänger“ – Rebellen, Frevler und Heroen in antiken Mythen“ aus dem Jahr 2015, setzt sich Eugen Drewermann (geb. 1940) explizit mit diesem Vorwurf auseinander: 

„Der Glaube an eine unbeweisbare jenseitige Wirklichkeit ist…gerade nicht eine Form des Ausweichens, sondern umgekehrt: des unabweisbaren Eintretens… nur er lässt wirklich klarsehen, macht er doch fähig, die unmenschliche Absurdität in den Strukturen von Welt und Geschichte als das Inakzeptable allererst zu entdecken.“ 2

In einem Buch, das Antworten auf Briefe von jungen Menschen enthält, geht Karl Rahner (1904-1984) ebenfalls auf diesen „Fels des Atheismus“ ein: 

„Es ist doch eigentlich so, dass der Atheist, für den dieses Leid eine absolut unlösbare Endgültigkeit hat, dieses Leid gerade als letztlich belanglos, als endlich, als eine Unvermeidlichkeit einer sich entwickelnden und sich immer wieder aufs Neue in ihren Gestalten auflösenden Natur erklären muss.  Der Atheist hat nicht das geringste Recht, dieses Leid der Welt besonders wichtig zu nehmen. Ein Mensch, der glaubt, dass Gott existiert als ein heiliger, gerechter, liebender, unendlich mächtiger Gott, für den ist eigentlich das Leid erst ein wahres Problem. Er löst es dann nicht, aber er kann wirklich einsehen, dass gerade er von seiner Position her viel radikaler dieses Leid als Frage ernst nehmen kann als ein Atheist, der im Grunde genommen von vornherein sich mit der Absurdität dieser Welt, dieser Naturentwicklung, dieses Aufgehens und Abstürzens zufriedengeben muss.“ 3

Was nicht beschreibbar ist, existiert auch nicht!

In der heutigen Welt scheinen die Fragen der Religionskritik verstummt zu sein. Mit ‚Gott‘ braucht man sich nicht eigens abzugeben. Es ist ‚vergebliche Liebesmüh‘, denn es hat keinen Sinn, in einer digitalisierten Welt, in der alles machbar zu sein scheint und in der es – Dank auch von KI – keinerlei Geheimnisse wohl mehr gibt, sich etwas herbeizuträumen, das reines ‚Hirngespinst‘, reiner Wunschtraum ist. Was nicht beschreibbar ist, existiert nicht, (Wittgenstein?), mit sinnlosen Fragen braucht man sich nicht abzugeben. So die einhellige Meinung aller Positivisten und Materialisten. Gott kommt nicht nur nicht vor. Er kann gar nicht vorkommen!

Fragen, die „mitten ins Herz treffen“

Es gibt allerdings mitunter Aussagen, die ‚mitten ins Herz treffen.“ Die nachfolgende gehört dazu. Der nicht unbedingt für seine Nähe zur Institution Kirche bekannte Eugen Drewermann schrieb im Jahr 2014 ein Buch mit dem markanten Titel „Wendepunkte – oder Was eigentlich besagt das Christentum?“ 4 Aus der Menge der kaum überschaubaren Bücher Eugen Drewermanns ragt dieses Werk heraus, denn – so heißt es auf der Rückseite des Covers:

„Eugen Drewermann stellt die Theologie vom Kopf wieder auf die Füße und führt sie zurück zu dem, was Jesus von Nazareth wollte und was das Christentum eigentlich besagt.“ 

Man kann also durchaus sagen, dass es sich hierbei um einen „Grundkurs des Glaubens“ handelt, wie Drewermann ihn versteht, um sein ‚Credo‘, sein Glaubensbekenntnis. Eines allerdings, das wird bei Drewermann nicht verwundern, das sich auf weit über 500 Seiten erstreckt. Und man kann sicher sein, dass man bei Drewermann immer auch eine Auseinandersetzung auf hohem Niveau mit all jenen kritischen Äußerungen findet, die sich in der herkömmlichen und auch neuzeitlichen Religionskritik ‚versammeln‘. Erstaunt war ich allerdings schon, dass fast ganz am Ende dieses Buches Drewermann jene Frage formulierte, die auch mich umtreibt und die all das aufnimmt, was Kirche und Glauben radikal in Frage stellt:

„Ist aber all das nicht zu <<subjektiv>>, zu <<psychologisch>> und zu wenig <<wirklich>>?  – Ein solcher Einwand zieht sich quer durch die gesamte Theologiegeschichte, und er beruht an jeder Stelle auf dem gleichen Missverständnis: Nichts in der Welt, nichts in der Seele eines Menschen ist mit Gott identisch; doch ganz so wie das Aufblühn einer Blume nicht möglich wäre ohne Sonnenlicht, so wenig ist …Liebe möglich ohne Gott; dass Gott in <<Unverstelltheit>> (in seiner Gnade) Menschen glaubhaft wird, bewirkt die Botschaft Jesu; und der <<Geist>>, der dann in Menschen Einzug hält, verändert das ganze Dasein…Alles, was in der Verwandlung des Daseins…sich ereignet, verdankt sich…einzig der Erfahrung eines Umgriffenseins und Ergriffenseins im ganzen.“ 5

Es ist zugleich eine beglückende Erfahrung, dass – bis ins Wörtliche hinein – die Antwort auf dieses grundlegende „Missverständnis“ sämtlicher Religionskritik sich auch bei Karl Rahner findet. Und zwar in seinem allerersten Buch, einem Gebetbuch mit dem Titel: „Worte ins Schweigen.“ 

„Dank deiner Barmherzigkeit, du unendlicher Gott, dass ich von dir nicht bloß weiß mit Begriffen und Worten, sondern dich erfahren, erlebt und erlitten habe. Denn die erste und letzte Erfahrung meines Lebens bist du. Ja wirklich du selber, nicht dein Begriff, nicht dein Name…Du hast mich ergriffen, nicht ich habe dich>>begriffen<<, du hast mein Sein von seinen letzten Wurzeln und Ursprüngen her umgestaltet, du hast mich deines Seins und Lebens teilhaftig gemacht, dich mir geschenkt, dich selber, nicht bloß eine ferne undeutliche Kunde von dir in Menschenworten. Dich kann ich darum nicht vergessen, weil du ja die innerste Mitte meines Wesens geworden bist.“ 6

Weil Du die innerste Mitte bist!

„Weil du ja die innerste Mitte meines Wesens geworden bist“ – Eugen Drewermann spricht ähnlich wie Rahner von „der Verwandlung des Daseins“. Sie, also diese Verwandlung, „verdankt sich…einzig der Erfahrung eines Umgriffenseins und Ergriffenseins im ganzen.“ Dieses „Ergriffensein“, diese reale (!) Lebenserfahrung macht deutlich, dass das Bild des Menschen blass und abstrakt, ja unwirklich wird, wenn es diese grundlegende, existentielle Erfahrung ausblendet oder verdrängt. Glaube, auch der Glaube an die Auferstehung der Toten, lebt gerade nicht vom Wunschdenken! Er lebt von der – im Leben erfahrenen – Liebe, die keine Grenzen kennt. Denn er nimmt Bezug auf die Realität, die nicht primär als Machen und Haben (diese erst ermöglichend!), erlebt wird, sondern als Geschenk.

„Der Glaube an Gott widerspricht nicht der Liebe zu den Menschen, er wird selbst durch sie beglaubigt, er ist das >>Wasser des Lebens<< für die in der Wüstenei der Welt Verdurstenden, und es ist keine irreführende Heuchelei, sondern ein Akt der Menschlichkeit, die Menschen zu bestätigen und zu bestärken in dem, was sie zum Leben brauchen. 7

Und auch hier scheinen sich Drewermann und Rahner gegenseitig zu bestätigen, wenn Rahner – wiederum in einem ganz frühen Gebet- bekennt: 

„Was habe ich also anders dir von dir zu sagen, als dass du der bist, ohne den ich nicht sein kann…und wenn ich das von dir sage, dann habe ich mir meinen wahren Namen gegeben…  Ich bin der, der sich nicht selbst gehört, sondern dir. Mehr weiß ich nicht von mir, mehr nicht von dir – Du -, Gott meines Lebens, Unendlichkeit meiner Endlichkeit.“ 8

Wir glauben an die Auferstehung der Toten

Wir beten im Glaubensbekenntnis: „Wir glauben an die Auferstehung der Toten und das ewige Leben.“ Damit dieses Bekenntnis auch den nötigen Nachdruck erhält, bekräftigen wir es mit der ausdrücklichen Formel „Amen“, d. h. so sei es! Es ist einzig die Liebe, die bedingungslos als ‚absolute Person‘ existiert, die uns gewollt hat, von Ewigkeiten her, und die auch die Hoffnung begründet für ein Wiedersehen mit all unseren lieben Verstorbenen. Wir können für sie nur in der Hoffnung hoffen, in der wir auch für uns hoffen. Darum gibt es für die Liebe keinerlei Begrenzung! Oder, um es mit den Worten Eugen Drewermanns zu sagen: 

„An Gott zu glauben, das heißt: an die Liebe selber zu glauben. Es ist aber schon deutlich, dass wir damit nicht einfach an uns selber glauben oder einen projektiv veräußerlichten Teil unserer selbst anbeten – so gerade nicht; wir glauben vielmehr inmitten aller Zerbrechlichkeit, Armut und Fragwürdigkeit daran, trotz allem aller Liebe wert zu sein und – zumindest grundsätzlich – alle Lebewesen neben uns in diesen Kreis der Liebe hineinholen zu können.“ 9

Pilger der Ewigkeit

Gerade an Allerheiligen und Allerseelen bete ich voller Hoffnung ein Gebet Karl Rahners mit, das uns immer wieder auf und in das Leben im Hier und Heute verweist. Wir sind „Pilger“. Und was wir brauchen auf diesem Pilgerweg, ist weder illegitim noch ist es zu anspruchsvoll. Wir – und damit alle Menschen – worauf sich im übrigen Mitmenschlichkeit und umfassende Solidarität gründen – brauchen Obdach, Nahrung, Wärme, Vertrauen, Vergebung, Liebe. Hier darf nichts wegrationalisiert oder geleugnet oder verdrängt werden. Die letztlich entscheidende Frage ist die, ob wir unser ‚Herz‘ an diese – berechtigten – Sachen und Wünsche ganz hängen. Ob wir in ihnen alles sehen, ob sie uns die ‚Erfüllung‘ schenken. 

Daran entscheidet sich alles, auch die Hoffnung auf das Wiedersehen mit unseren lieben Verstorbenen. Denn – so Dorothee Sölle in einem bekannten Buch von ihr: „Es muss doch mehr als alles geben“ 10 . Und darum gehört das Schlusswort auch dem ‚betenden‘ Karl Rahner: 

„Wir sind unterwegs, Wanderer zwischen zwei Welten. Weil wir noch auf Erden wandeln, lasst uns bitten um das, was wir auf dieser Erde brauchen. Da wir aber Pilger der Ewigkeit auf dieser Erde sind, lasst uns nicht vergessen, dass wir nicht so erhört werden wollen, als ob wir hier eine bleibende Stätte hätten…“ 11


  1. Buchtitel von Rudolf Hubert, Würzburg 2018 ↩︎
  2. Eugen Drewermann „Grenzgänger“ – Rebellen, Frevler und Heroen in antiken Mythen, Ostfildern 2015, S. 166 ↩︎
  3. Karl Rahner „Mein Problem“ – Karl Rahner antwortet jungen Menschen, Freiburg-Basel-Wien 1982, S. 134 ↩︎
  4. „Wendepunkte – oder Was eigentlich besagt das Christentum?“ von Eugen Drewermann, Ostfildern 2014. ↩︎
  5. Eugen Drewermann „Wendepunkte“, Ostfildern 2014, S. 498 ↩︎
  6. Karl Rahner, Sämtliche Werke (SW) 7, S. 15 f ↩︎
  7. Eugen Drewermann „Alles ist Gnade“, Ostfildern 2025, S.273 ↩︎
  8. Karl Rahner, SW 7, S. 5 f ↩︎
  9. Eugen Drewermann „Das Wichtigste im Leben“, Ostfildern 2015, S. 58 – ursprünglich aus „Der sechste Tag“, 359 ↩︎
  10. Dorothee Sölle „Es muss doch mehr als alles geben“ – Nachdenken über Gott, Hamburg 1992 ↩︎
  11. Karl Rahner „Beten mit Karl Rahner“, Freiburg, 2004, Band 1 „Von der Not und dem Segen des Gebetes“, Einführung Rudolf Hubert und Roman A. Siebenrock S.129 – SW 7, 84 ↩︎
Foto von Bruno van der Kraan auf Unsplash

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