So lautet der Text aus einem Lied aus dem Katholischen Gebet- und Gesangbuch „Gotteslob“. In dem Lied geht es – in bildreicher Sprache – um etwas Gemeinsames, um blühende Rosen, um Brot und Kleidung, die geteilt werden, so dass niemand Mangel leidet. Immer geht es dabei um Menschen, die mit sich, mit ihren Mitmenschen und mit ihrer Umwelt in Einklang leben. Wenn das geschieht – so die Verheißung – „dann lebt ER schon in unserer Welt“. Gemeint ist damit, dass die Erfahrung des großen, unbegreiflichen Geheimnisses, das uns „unbedingt angeht“ (Tillich) und das mit GOTT mehr angedeutet als beschrieben werden kann, ein wenig in den Blick kommt.
Dank und Freude und Zuversicht
Wir haben gerade die Feiern zum 35.Jahrestag der Deutschen Einheit hinter uns. Sicherlich wird jede und jeder von uns dabei seine ganz eigenen Erfahrungen gemacht haben. Bei uns, in unserer Familie, ist es seit drei Jahren so, dass wir uns mit Geschwistern, Kindern und Enkeln treffen, um diesen Tag gemeinsam zu feiern. Wir wollen diesen Tag bewusst zusammen sein, als Familie eben. Es ist uns wichtig-gerade, weil wir nicht auf engstem Raum zusammen sind – denn einige wohnen in der Uckermark, andere in Mecklenburg-Vorpommern oder im Saarland – dass wir uns wenigstens einmal im Jahr Zeit füreinander nehmen. Uns wird bei solchem Treffen mehr als sonst bewusst, wie vergänglich alles ist, wie die Zeit vergeht, wie kostbar das Leben ist und was für ein großes Geschenk uns gemacht worden ist durch das Leben selbst, durch unser Miteinander – Dasein. Es ist eine große Freude, dies sich bewusst zu machen, dass eben nichts selbstverständlich ist, dass unser Leben im Mit- und Füreinander besteht. Es ist auch eine zutiefst menschliche Erfahrung, die Zerbrechlichkeit wahrzunehmen, die Gefährdungen, die Unsicherheiten. Und es ist eine große Tugend, Hoffnung und Zuversicht zu teilen und weiterzugeben. Über Grenzen und Generationen hinweg.
Es bleiben Fragen…
Wenn ich allerdings die Nachrichten verfolge – in den Printmedien ebenso wie auf den digitalen ‚Kanälen‘- dann erlebe ich oft unterschiedliche, ja gegensätzliche Stimmungen, die mich wiederum sehr nachdenklich machen. Ich möchte zwei ‚Positionen‘ hier exemplarisch dafür anführen, was ich meine:
„Lasst uns doch darüber sprechen, was eigentlich alles gut läuft in der Offenen Gesellschaft! Fangen wir mal mit dem Einfachsten an: Viele Flüchtlinge müssen sich erstmal daran gewöhnen, dass man in diesem Land nicht geschlagen oder bedroht wird, auf Ämtern, von Polizisten, in den Heimen. Dort, wo sie herkommen, ist das nämlich anders: Gewalt eine Alltäglichkeit. Und Not ganz normal. Wir leben so unglaublich sicher und merken es nicht; wenn man aus anderen Verhältnissen kommt, fällt es sofort auf. Positiv. Und fragt mal alle Idioten, die von >>Staatsversagen<< hierzulande sprechen, ob sie schon mal zum Beispiel in Rumänien oder Pakistan in einem Krankenhaus waren? Oder beim Zahnarzt? Oder eine Überschwemmung in Ghana erlebt oder sich in den USA ein Bein gebrochen haben? Die Leute, die unsere Gesundheitsversorgung für ein Problem halten, waren noch nirgendwo anders auf der Welt in Not. Wir hatten mal ein Au-pair-Mädchen aus Peru, das nach seinem ersten Stadtspaziergang in Hannover völlig fassungslos von einem Mann erzählte, der um Futter für seinen Hund bettelte. In Peru, sagte sie, hätte er seinen Hund längst gegessen.“ 1
Soweit die eine Meinung. Eine andere kommt mit folgender Attitüde daher:
„Dass ein überzeugter Sozialist mit dem Islam liebäugelt, ist nur auf den ersten Blick inkohärent. Denn es geht nicht um Inhalte … es geht um die Attitüde. Salonrevoluzzer, Weltveränderer und Utopisten waren immer für autoritäre und totalitäre Versuchungen anfällig…nun taucht eine neue Verführung am Horizont der Utopien auf: der Islam. Ein einfaches, überschaubares System, dass dennoch die Lösung vieler Probleme anbietet. Zinsverbot statt Zinsknechtschaft, Gemeinschaft statt Individualismus, Teilen statt Abkassieren. Freilich: Wäre dem so, müsste Saudi-Arabien das soziale Paradies und nicht das reaktionärste System auf dem Globus sein…der Gegenpol zu allem, was die westliche Zivilisation ausmacht…Da gibt es keine Debatten und keine Diskurse, keine Mehrheiten und keine Minderheiten, keinen Vermittlungsausschuss und kein Misstrauensvotum…eine Gelegenheit, es >>dem System<< heimzuzahlen. Es fragt sich nur: wofür? Was ist so schlecht an dem System? Es hat sich als enorm flexibel und lernfähig erwiesen. Statt seine Feinde auszugrenzen, hat es sie integriert…Die Stärke des Systems ist auch seine Schwäche. Es ist langsam, es ist schwerfällig, es ist umständlich.“ 2
Wie kann man umgehen damit, wenn Gewissheiten zerbrechen, wenn Orientierungen verloren zu gehen scheinen und man sich an etwas festklammern möchte, dass bei näherer Betrachtung doch nicht hält, was es verspricht. Mich treiben diese Gedanken seit längerer Zeit um und ein schönes Familienfest lässt zwar für einen Augenblick diese Wirklichkeit ‚außen vor‘. Doch ganz vergessen kann ich sie nicht und umso stärker – nach all dem Schönen und Hoffnungsfrohen – taucht im Nachhinein die Frage auf, die die Gesellschaft, in der wir leben, insgesamt betreffen: Sind nicht Unsensibilität, Undankbarkeit und Freudlosigkeit DIE eigentlichen Gefährdungen für unser Gemeinwesen? Und woher kommt dieses Unbehagen? Mir scheint, die nachfolgende Betrachtung ein hilfreicher Antwortversuch zu sein:
Ungewissheit und Wagnis
„Die Wahrheit als solche, das Absolute, der Bezugspunkt des Denkens überhaupt, ist nicht mehr sichtbar. Darum gibt es – gerade auch geistig betrachtet – kein Oben und Unten mehr. Es gibt keine Richtungen in einer Welt ohne feste Messpunkte. Was wir als Richtung ansehen, beruht nicht auf einem in sich wahren Maßstab, sondern auf unserer Entscheidung, letztlich auf Gesichtspunkten der Nützlichkeit. In einem solchen ‚relativistischen Kontext‘ wird teleologische oder konsequentialistische Ethik letztlich nihilistisch, auch wenn sie es nicht wahrnimmt. Und was man in solcher Weltsicht ‚Gewissen‘ nennt, ist – tiefer betrachtet – die Umschreibung dafür, dass es ein eigentliches Gewissen, nämlich ein Mitwissen mit der Wahrheit nicht gibt. Jeder bestimmt sich selbst seine Maßstäbe, und in der allgemeinen Relativität kann auch niemand dem anderen dabei behilflich sein…in dem …Urentscheid…dem Vertrauen auf die Wahrheitsfähigkeit des Menschen einerseits und einer Weltsicht andererseits, in der nur der Mensch sich selbst seine Maßstäbe schafft.“ 3
Es ist offensichtlich: Der Mensch selbst ist es, der sich seine eigenen Maßstäbe schafft. Und sie basieren scheinbar auf einem einzigen Kriterium, dem der Nützlichkeit. Die daraus folgende Ichbezogenheit kann unsere Gesellschaft und den Einzelnen nur krankmachen. Denn sie führt zu einem hemmungslosen Individualismus, der die Mit- und Umwelt aus den Augen verliert. So entstehen im wörtlichen Sinn „Strukturen des Bösen“. 4 Und dabei geht der Kompass, der Richtungssinn unseres Seins und Tuns, verloren. Ja, es scheint so zu sein, dass das Verlorengehen des ‚Richtungsanzeigers‘ als Verlust nicht einmal mehr bemerkt wird. Das kann nicht ohne Folgen bleiben, denn:
„Es steckt doch eine ernste Frage an uns dahinter…ob wir fahren und reisen, uns in den Betrieb als Dauerzustand stürzen, weil wir es mit uns, mit der Stille und dem Schweigen nicht aushalten, ob wir immer laufen, weil wir uns davonlaufen müssen…Man muss sich selber die Einsicht erkämpfen, dass man durch schnelles Fahren nicht vom Wissen dispensiert ist, wohin eigentlich die Reise geht…Die unendliche Bewegung innerhalb des Zieles…ist mehr als die tote Ruhe… wir erreichen diese nur, wenn wir den leeren Betrieb in der Flucht vor sich selbst nicht für besser und erträglicher halten als die Ruhe. Freilich: es mag viele solcher Einübungen des ruhigen und stillen Zusichselberkommens geben: die Erfahrung des lauteren Kunstwerkes und der reinen Musik, der innigen und reinen Liebe von Mensch zu Mensch, der hohen Einsicht und Erkenntnis, die nicht auf den Nutzen ausgerichtet ist…Letztlich aber gibt es doch nur eine Stille, die es bei sich aushalten kann: das Gebet…in dem liebenden Einssein mit dem unendlichen Geheimnis, das wir Gott nennen.“ 5
Leben in „Strukturen des Bösen?“ – Die Antwort des Glaubens
Wie kann man angesichts dessen so mit sich und seiner Um- und Mitwelt umgehen, dass die Orientierung wieder gefunden wird. Das scheint mir heute nicht nur eine große gesellschaftliche Frage, sondern in einem vielleicht ungeahnten Ausmaß auch eine Herausforderung zu sein. Und auch hier scheint Eugen Drewermanns ‚Erstling‘ hilfreich, im wörtlichen Sinn wegweisend zu sein:
„Alle Selbsterkenntnis führt im Grunde dazu, den falschen Anschein zu beseitigen, als seien die äußeren Umstände, Personen und Faktoren an sich, die dazu trieben, aus Angst sich selber zu verfehlen. In Wirklichkeit ist die Macht der äußeren Faktoren abhängig von der Bedeutung, die man ihnen verleiht, und diese hängt ganz und gar an der Art des eigenen Lebensentwurfes.“ 6
Vielleicht ist nichts wichtiger heute als diese Einsicht! Denn es ist der eigene Lebensentwurf und nicht in erster Linie äußere Bedingungen, die unsere Sicht auf die Welt bestimmen. Und hier scheint mir der Glauben eine Relevanz zu besitzen, die kaum überschätzt werden kann:
„So läuft denn alles auf die Frage hinaus, zu wem der Mensch sich wesentlich verhält … Um aus dem Getto der mythischen Vielgötterei und neurotischen Zwänge herauszutreten, bedarf es einer Erfahrung, in der die Angst auf dem Untergrund der Existenz … überwunden wird … Die Angst der Existenz beruhigt sich nur durch das Vertrauen in die Liebe einer anderen Person. Diese Person aber kann nie ein Mensch, sondern … nur Gott allein dem Menschen sein … Der Abgrund der Angst könnte nur überwunden werden durch einen absoluten Grund der Existenz; aber man wird nie, durch keinerlei Anstrengung, den Angsttraum der Selbstvergöttlichung, des eigenen absoluten Seins…verwirklichen.“ 7
Mir ist der Satz: – „Man wird nie, durch keinerlei Anstrengung, den Angsttraum der Selbstvergöttlichung, des eigenen absoluten Seins…verwirklichen.“- nicht nur ein großer Trost und eine entscheidende Hilfe. Er ist auch ein Auftrag, deutlich zu machen – und zwar durch unser gesamtes Leben -, dass ohne das Vertrauen in einen absoluten personalen Grund unserer Existenz – wie es uns der Mann aus Nazareth exemplarisch vorgelebt hat – alle anderen ‚Heilsversprechen‘ Irrtümer und Scheinlösungen sind, denn:
„Entweder man setzt am Menschen seine biologischen Antriebe als das Wesentliche und reduziert … sein Geistesleben auf die ‚Verschleierung‘ gewisser ‚primärer‘ Bedürfnisse … dann bleibt keine andere Hoffnung, als die … es möge eines Tages zur Lösung der Menschheitsfragen die gesamt e… Therapie durch eine besondere Kenntnis von ‚besonderen chemischen Stoffen‘ ersetzt werden… die Selbstabschaffung der menschlichen Freiheit … fände dann ihre… Vollendung. Oder es müsste dem Menschen gelingen, die Angst seiner kontingenten Freiheit zu beruhigen in einer absoluten Freiheit, die ihm gegenübersteht und von der er sich getragen und gehalten weiß…“ 8
Drewermann sagt in aller wünschenswerten Klarheit, um was es letzten Endes geht, nämlich die Angst – sich im Leben zu verfehlen – zu beruhigen. Und wie geschieht das in einer so hektischen und oft hilflos wirkenden Welt? Ist das kein aussichtsloses Unterfangen? Gewiss, wenn man nur bei sich bleibt, wenn man nichts anderes kennt oder kennenlernen will als das Leben nach dem Nützlichkeitsprinzip. Dieser überbordende Individualismus, dieser reine Pragmatismus erzeugt Angst. Angst, im Leben zu kurz und (immer) zu spät zu kommen. Er kann nicht durch Tun beruhigt werden, sondern nur durch eine Freiheit, die bedingungslos und absolut in der Liebe ist, die das eigene Tun erst ermöglicht und die uns im Leben begleitet und trägt – immer und überall.
Ich bin Eugen Drewermann dankbar dafür, dass er gleich zu Beginn seiner akademischen Tätigkeit das, worauf es ihm ankommt, in aller wünschenswerten Deutlichkeit ausgesprochen hat. Und es scheint so zu sein, als ob er all jenen gewissermaßen ‚einen Riegel vorschieben‘ wollte, die ihn später der ‚Selbsterlösung‘ oder der ‚Verliebtheit‘ in die Tiefenpsychologie verdächtigten:
„In aller Klarheit: wenn von Gott nicht als einer vom menschlichen Du, vom menschlichen Geist und von der menschlichen Psyche verschiedenen Person die Rede ist, wird man in der Beschreibung der Störquellen und Störmechanismen der zwischenmenschlichen Beziehungen nicht über die Neurosenlehre, die Existentialanalyse oder den dialektischen Materialismus hinauskommen, ja es ist in Anbetracht der Hoffnungslosigkeit, die darin liegt, dass es nichts über den Menschen hinaus gebe, sehr unwahrscheinlich, dass man überhaupt die Radikalität und Totalität einer solchen Ausweglosigkeit akzeptieren wird … Der Weg in die Gnosis, in die Verunendlichung der Psychologie, bzw. in den Pantheismus, in die Verunendlichung der Schöpfung, ist dann nicht mehr aufzuhalten. In der Praxis wird eine solche ‚Theologie‘ darum wie eine Bauanleitung wirken müssen, um den Turm zu Babel vielleicht doch noch zu vollenden. 9
Wie nötig ist Religion!
Drewermann hat nicht nur auf GOTT als „alles bestimmende Wirklichkeit“ hingewiesen, er hat auch alle Konsequenzen aufgezeigt, wenn diese Wirklichkeit aus dem Blickfeld gerät. Diese Einsicht hat er in seinem ganzen, kaum überschaubaren Lebenswerk konsequent durchgehalten, wie die nachfolgenden Stellen eindrucksvoll belegen:
„Wie nötig wäre Religion! Wer, wenn nicht sie, könnte den Menschen sagen, dass sie mehr sind als Übergangsgebilde im Stoffwechselhaushalt der Natur“ 10
Und weiter:
„Dass die Theologie ihrerseits den Geltungsbereich der Naturwissenschaften…radikal in Frage stellen müsste…Sie darf gar nicht anders! …alle Naturwissenschaft kann nur die Falle vermessen, in welcher wir stecken, und ihre Geschlossenheit für unentrinnbar erklären. Auf die radikale Infragestellung der menschlichen Existenz durch die natürlichen Daseinsvoraussetzungen vermag keine Naturwissenschaft sinnvoll zu antworten.“ 11
Wie aber kommt man aus dieser „Falle“ heraus? Das scheint abschließend DIE Frage zu sein, der wir uns als Einzelne und als Gesellschaft zu stellen haben. Und hier wird die „Glaubensrechenschaft“ nicht nur eine große Rolle spielen. So wichtig die Verkündigung von Glauben, Hoffnung und Liebe sind, so sehr kommt es auf den ganzheitlichen Lebensvollzug an, in dem diese Tugenden wirken und wirksam sind.
„Man kann radikale Liebe, Treue und Verantwortung, die sich nie ‚rentieren‘, leben und ‚meinen‘, alles menschliche Leben verschwinde im sinnlosen Nichts, aber im Akt solcher Lebenstat selbst ist diese Meinung nicht enthalten…Solche Grundtaten des Lebens …bejahen die erste und letzte Voraussetzung solcher Hoffnung, die wir Gott nennen.“ 12
Und an anderer Stelle sagt Karl Rahner:
„Man sage nicht, man könne die Lehre des Christentums nur leben, wenn man von ihr schon überzeugt sei…es gibt keinen Menschen, der nicht schon in jener Wirklichkeit, die seiner Freiheit vorausgeht, …schon irgendwie Christ wäre: Mensch der Sehnsucht, Mensch, der noch gebliebenen Liebe, Mensch, dessen Innerstes sich eben an der Wahrheit doch mehr erfreut als an der Lüge…“ 13
Wie und wo beginnt der Glaube?
Wie und wo beginnt also jener Glaube, der den Menschen davor bewahrt, nur bei sich oder nie bei sich anzukommen? Das ist die eigentliche Frage menschlichen Lebens:
„Das ist die Chance der Angst, dass der Mensch in ihr Gott begegnet. In dem Augenblick, da ihm alles, woran er unmittelbar im Endlichen hing, in der Angst aus den Händen fällt, ist ihm die Möglichkeit gegeben, zu entdecken, wovon er wirklich lebt. Dies ist der Schritt des Glaubens: dass ich mich selbst, meine…nicht – notwendige, überflüssige Existenz als geschaffen, vom Unendlichen her als bejaht, gewollt, berechtigt entdecken kann und dass diese Entdeckung es ermöglicht, mich selbst zu akzeptieren…Die Erfahrung, dass ich mich bejahen kann, weil Gott mein Dasein im Voraus bejaht hat, dass ich den Grund und die Rechtfertigung meines Daseins nicht zu erschaffen brauche, weil es diese Grundlage meines Daseins bereits gibt…Somit gelangen wir zu einer Art existentieller Erfahrungsabfolge der Selbstwahrnehmung des Menschen, indem zwar der Glaube der Erkenntnis der Verzweiflung des menschlichen Daseins in der Sünde vorausgeht, aber die Wirklichkeit, die der Glaube entdeckt, immer schon der Sünde vorausgeht, so dass die Sünde im Glauben als Sündenfall erscheinen muss, – nicht im Sinne eines historischen, sondern wesenhaften Abfalls der menschlichen Freiheit.“ 14
Das Wagnis des Glaubens, das niemandem abgenommen werden kann und das durch das gesamte Leben hindurchgeht, hört sich bei Karl Rahner nicht unähnlich an:
„Man kann es eigentlich niemandem vormachen. Man kann niemanden zwingen, die Planke loszulassen, an der der Mensch sich krampfhaft festhält, obwohl er weiß, dass sie ihn nicht retten kann, die Planke der verzweifelten Selbstbehauptung und der sich selbstbehauptenden Verzweiflung… Sind wir uns aber nicht einig, dass dein Herz ersehnen soll, was es – wie du sagst – nicht kann, glauben an den Sinn, die Freiheit, das Glück, die Weite, die lichte Wahrheit, an – Gott? …“ 15
- Harald Welzer „Wir sind die Mehrheit – Für eine Offene Gesellschaft, Frankfurt a. Main 2017, S. 47 f ↩︎
- Henry M. Broder „Hurra, wir kapitulieren!“, Berlin 2007, S. 172 ff ↩︎
- Joseph Kardinal Ratzinger „Wahrheit, Werte, Macht – Pluralistische Gesellschaft im Kreuzverhör“, Frankfurt a. Main 1999, S. 46 f ↩︎
- Eugen Drewermann „Strukturen des Bösen“ I-III, München, Paderborn, Wien 1978, 8. Auflage 1996 (Die erste Auflage dieses umfangreichen, dreibändigen Werkes von Eugen Drewermann erschien 1977/1978 und erlebte in wenigen Jahren – trotz des Umfanges und des Schwierigkeitsgrades – mehrere Auflagen!) ↩︎
- Karl Rahner „Alltägliche Dinge“, Einsiedeln-Zürich-Köln 1964, S. 16 f ↩︎
- Eugen Drewermann „Strukturen des Bösen“ III, München, Paderborn, Wien 1978, 8. Auflage 1996, S. XXIII ↩︎
- Eugen Drewermann „Strukturen des Bösen“ III, München, Paderborn, Wien 1978, 8. Auflage 1996, S. XLI f ↩︎
- Eugen Drewermann „Strukturen des Bösen“ III, München, Paderborn, Wien 1978, 8. Auflage 1996, S. S. XXIX ↩︎
- Eugen Drewermann „Strukturen des Bösen“ III, München, Paderborn, Wien 1978, 8. Auflage 1996, S. 577 ↩︎
- Eugen Drewermann „Wendepunkte“, Ostfildern 2014, 9 ↩︎
- Eugen Drewermann „Wendepunkte“, Ostfildern 2014, 120 ↩︎
- Karl Rahner „Das große Kirchenjahr“, Freiburg im Breisgau 1987, Leipzig 1990, S. 271 ↩︎
- Karl Rahner „Gegenwart des Christentums“, Freiburg-Basel-Wien 1963, S. 39-51 ↩︎
- Eugen Drewermann „Strukturen des Bösen“ III, München, Paderborn, Wien 1978, 8. Auflage 1996, S. 546-551 ↩︎
- Beten mit Karl Rahner, Band 1 „Von der Not und dem Segen des Gebetes“, eingeleitet von Rudolf Hubert und Roman Anton Siebenrock, Freiburg-Basel-Wien 2004, S. 60 f (1958, S. 21f) ↩︎