35 Jahre Deutsche Einheit
Am 3. Oktober feiern wir in Deutschland den 35. Jahrestag der Deutschen Einheit. Schon dieser erste Satz wird Widerspruch hervorrufen, denn die jüngsten Meinungsforschungsergebnisse sprechen eine andere Sprache. Vielen ist danach nicht nach Feiern zumute, ganz im Gegenteil. Im öffentlich – rechtlichen Fernsehen läuft derzeit eine Sendung unter dem Titel: Einigkeit und Verdruss und Freiheit. Auf dem Büchermarkt legt ein gewisser Thilo Sarrazin ‚Rechenschaft‘ ab über die Richtigkeit seiner Thesen, die er in seinem Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ 1 vor Jahren aufgestellt hat. Über das Ergebnis seiner ‚Recherche‘ braucht man auch nicht lange herumzurätseln, ebenso nicht über die Tantiemen, die ihm diese Neuauflage wiederum einbringen, nachdem ja schon die erste Auflage seines Bestsellers seine Kasse ‚klingeln‘ ließ. Der ehemalige Finanzsenator versteht sein Handwerk. Über manche seiner Thesen wird man streiten können und streiten müssen, doch die eigentliche Frage scheint mir eine andere: Ist das Bild, das hier gezeichnet wird, wirklich fair und ausgewogen? Reicht es für den Untertitel, der suggestiv die These aufstellt: „Wie wir unser Land aufs Spiel setzen“.
Hurra, wir kapitulieren?
Mich lassen diese Fragen nicht ruhen. Erst recht nicht, wenn ich zurückgehe in das Jahr 2007. Henryk M. Broder schreibt schon vor fast 20 Jahren seinen Bestseller „Hurra, wir kapitulieren“. 2 Ist das so? Gewiss, unser Gemeinwesen kennt keine Mauern. Darum darf es keine Parallelgesellschaften geben oder ein Infragestellen unseres Grundgesetzes. Allerdings, dort, wo Integration nicht gut gelingt, bedarf es zunächst der Anfrage an uns selbst, was wir falsch gemacht haben, wie es dazu gekommen ist, wer was zugelassen hat, was getan oder unterlassen wurde, dass so ein Zustand eingetreten ist. Und dann muss natürlich die Frage gestellt werden, was man mit demokratischen Mitteln tun kann, um diesen Zustand wirksam zu verändern.
Ja, unser nationaler Festtag gebietet es, über unseren begrenzten Horizont hinauszuschauen: Auf Europa, auf andere Länder in der EINEN Welt. Wir müssen bei uns innehalten- Gewissenserforschung nannte man es zu früheren Zeiten – ob es nicht auch und vorrangig unsere Art des Wirtschaftens ist, dass die Erde überfordert, wie sie andere Länder ausbeutet und den Menschen dort die Perspektive auf eine auskömmliche Zukunft raubt. Wenn das so ist, dann muss schleunigst gegengesteuert werden -im Großen und im Kleinen – denn nur so bekämpft man wirksam die so genannten ‚Flüchtlingsursachen‘.
Meine persönliche Betrachtung – Dankbarkeit und Freude
Gewiss wird jede und jeder Einzelne seine eigene Bewertung für den 3. Oktober in Deutschland haben. Und es wird in der Tat so viele legitime Meinungen geben, wie es Menschen gibt. Darum möchte auch ich meine Meinung kundtun.
Mich erfüllt dieser Tag vor allem mit großer Freude und tiefer Dankbarkeit. Und – Gott sei Dank – bin ich mit dieser Meinung nicht allein.
„Lasst uns doch darüber sprechen, was eigentlich alles gut läuft in der Offenen Gesellschaft!
Fangen wir mal mit dem Einfachsten an: Viele Flüchtlinge müssen sich erstmal daran gewöhnen, dass man in diesem Land nicht geschlagen oder bedroht wird, auf Ämtern, von Polizisten, in den Heimen. Dort, wo sie herkommen, ist das nämlich anders: Gewalt eine Alltäglichkeit. Und Not ganz normal. Wir leben so unglaublich sicher und merken es nicht; wenn man aus anderen Verhältnissen kommt, fällt es sofort auf. Positiv. Und fragt mal alle Idioten, die von >>Staatsversagen<< hierzulande sprechen, ob sie schon mal zum Beispiel in Rumänien oder Pakistan in einem Krankenhaus waren? Oder beim Zahnarzt? Oder eine Überschwemmung in Ghana erlebt oder sich in den USA ein Bein gebrochen haben? Die Leute, die unsere Gesundheitsversorgung für ein Problem halten, waren noch nirgendwo anders auf der Welt in Not. Wir hatten mal ein Au-pair-Mädchen aus Peru, das nach seinem ersten Stadtspaziergang in Hannover völlig fassungslos von einem Mann erzählte, der um Futter für seinen Hund bettelte. In Peru, sagte sie, hätte er seinen Hund längst gegessen.“ 3
So schrieb ein renommierter Soziologe im Jahr 2017. Ich selber bin 1958 geboren, und bin aufgewachsen bis zur gesellschaftlichen Wende im Jahre 1989 in der DDR. Mir scheint, 1989 ist nicht nur ein Wettkampf der Systeme – hier Sozialismus, dort Kapitalismus – zu Gunsten des Letztgenannten entschieden worden ist. Lernen musste ich, dass das kapitalistische Wirtschaftssystem, in dem die Profitmaximierung oberstes Prinzip ist, nicht nur sehr effektiv ist. Es ist auch nicht automatisch an Rechtsstaatlichkeit und Parlamentarismus gebunden. China macht es vor, wie ein totalitärer (Überwachungs-) Staat wirtschaftlich – auch international – erfolgreich sein kann. Russlands Imperialismus hat viele Ursachen, das Prinzip von Landraub und Profitmaximierung steht dabei ebenfalls nicht an letzter Stelle. Und in einer der ältesten Demokratien der Welt, in den USA, wird derzeit gerade vorgeführt, wie anfällig demokratische Strukturen sein können, wenn an den ‚Hebeln der Macht‘ sich Narzissten fast unkontrolliert und ungebremst austoben können.
Wofür also bin ich dankbar? Nicht nur dafür, dass ich nicht mehr auf ein Auto 16 Jahre warten muss oder ein Fernseher oder ein Kühlschrank oder eine Waschmaschine als ‚Luxusartikel‘ gehandelt werden. Ich bin vor allem dankbar dafür, dass ich frei denken und reden kann. Jene, die das in Abrede stellen – auf Plätzen, in Print-Medien und im Weltweiten Netz – beweisen genau dadurch das Gegenteil von dem, was sie behaupten. Ich bin dankbar dafür, dass es dezentrale Machtstrukturen gibt, dass über Missbrauch öffentlich debattiert wird, dass nicht eine Staatsmacht mir mitteilt, ob ich (und welche) Rechte und Pflichten ich habe. Ich bin dankbar dafür, dass ich im Frieden leben darf. Zusammen mit vielen anderen, vor allem auch mit meinen Geschwistern, Kindern und Enkeln. Ich bin dankbar dafür, dass ich nicht an einer willkürlichen Grenze erschossen werde, nur weil ich von Deutschland nach Deutschland reisen möchte, um meinen Onkel oder meine Tante zu besuchen. Ich bin dankbar dafür, dass meine Kinder und Enkel in einer Offenen Gesellschaft aufwachsen, die Kritik und Einmischung nicht nur nicht verbietet, sondern sie ausdrücklich einfordern. Das demokratische Gemeinwesen lebt davon, dass seine Bürgerinnen und Bürger sich einbringen. Es setzt rechtliche und politische Rahmenbedingungen, die die Kreativität der Bürgerinnen und Bürger fordern und fördern. Demokratie ist kein ‚Selbstläufer‘ und kein Automatismus. Eine Gesellschaft lebt vom Engagement ihrer Bürgerinnen und Bürger.
„Deutschland ist eine extrem reiche Gesellschaft, die den meisten Menschen, die in ihr leben, Freiheit und Sicherheit bietet, Handlungsspielräume und Entfaltungsmöglichkeiten. Die Kritik duldet und, wie gesagt, sogar braucht, um sich weiterzuentwickeln. Eine solche Gesellschaft lässt uns die Wahl. Wir dürfen ganz normal sein oder ganz anders. Wir dürfen Traditionen hochhalten oder Neues denken. Wir dürfen provinziell sein oder weltgewandt. Oder all das auf einmal.“ 4
Offene Gesellschaft oder Totalitarismus
Die Grenze scheint also nicht so sehr zwischen unterschiedlichen Wirtschaftssystemen zu verlaufen. Da scheint die Entscheidung klar, dass Effektivität und Effizienz nicht einfach durch politische Vorgaben ausgehebelt werden können. Die Grenze scheint in der Tat zu verlaufen zwischen der offenen Gesellschaft und dem Totalitarismus.
„Wenn man übrigens betrachtet, woraus totalitäre Systeme ihre Kraft bezogen haben, die Welt wenigstens für eine Weile nach ihren Vorstellungen einzurichten, dann war das zuallererst die Zerstörung von bestehenden Sozialbeziehungen: im Nationalsozialismus durch Gewalt gegen politische oder >>rassische<< Gegner und durch eine Politik der radikalen Ausgrenzung…Der Stalinismus zerstörte die Sozialität durch die willkürlich wechselnde Definition dessen, wer gerade als >>gut<< oder >>schlecht<< galt, als konform oder kriminell. Solche Willkür zerstört die Basis jeder Sozialität: Vertrauen. Beide Herrschaftssysteme bauten ihre soziale Macht auf die Destruktion autonomer, unkontrollierter Beziehungen zwischen den Menschen…Die ideale Einrichtung der Welt erfordert im ersten Schritt immer die Zerstörung eigensinniger Sozialverhältnisse…Es könnte …sein, dass der heutige Totalitarismus ausgerechnet im Gewand der Freiheit auftritt: in jedem Augenblick alles haben und sein zu können, was man haben und sein zu wollen glaubt…Es bedarf keiner Gestapo und keiner Tscheka mehr; im Zeitalter von Google und Facebook liefert ja jeder einzelne Insasse des Netzes die nötigen Daten über sich freimütig, ohne Zwang. Was das in der Konsequenz heißt, mag einem klarwerden, wenn man sich einen Augenblick lang den Faschismus mit Facebook vorstellt…“ 5
Dort, wo Macht unkontrolliert herrscht, wo sie in alle Lebensvollzüge willkürlich und ohne jede Kontrolle und ohne wirksame ‚Gegenspieler‘ sich aufführt, dort herrscht Totalitarismus. Egal, in welchem Gewand er auftritt, egal, welche ‚Farbe‘ oder Himmelsrichtung er annimmt. Linksextremismus, Rechtsextremismus oder religiöse ‚Gottesstaatsfantasien‘ haben immer den Beweis der Geschichte gegen sich mit ihren Millionen und Abermillionen von unschuldigen Opfern. Die Frage der Gewaltenteilung ist existentiell, um nicht in einem totalitären Gemeinwesen aufzuwachen, das jede Gemeinschaft zerstört.
Gabe und Aufgabe
Dass wir auch in Deutschland und in Europa im Jahr 2025 noch längst nicht das Optimum einer gerechten und freiheitlichen Gesellschaft erreicht haben – wer wird es bestreiten wollen? Einer der verhängnisvollsten Irrtümer und gleichzeitig das immer wiederkehrende Versprechen aller Gewaltherrscher und Diktatoren ist, das ‚Paradies‘ auf Erden ‚herbeizwingen‘ zu können. Wie wohltuend ist da jener Realismus, der sich aus dem Glauben speist oder, wie es Karl Rahner formuliert:
„Die Tugend des Alltags ist die Hoffnung,
in der man das Mögliche tut
und das Unmögliche Gott zutraut.“ („Gotteslob“ S. 275)
Vieles muss, darf und kann verändert werden – aber im System, in dem Rechtsstaatlichkeit, parlamentarische Demokratie, soziale Marktwirtschaft und freie Meinungsäußerungen Grundpfeiler sind. Viele kluge Ideen und sachliche Argumente – der Name sagt es schon – orientieren sich an der ‚Sache‘, an Gegebenheiten, die nicht einfach und von jedermann veränderbar sind. Immer aber haben sie einen Richtungssinn zu nehmen auf das Gemeinwohl, auf die Würde der Person. Und sie haben sich zu orientieren an der Subsidiarität, d. h. an den Fähigkeiten des Einzelnen, die er einbringen kann und einbringen soll, damit in die Gemeinschaft auch die unterschiedlichen Möglichkeiten Eingang finden (können). Und wo die Grenzen des Einzelnen oder der kleineren Gemeinschaft(en) erreicht sind – da, aber auch erst da und dann mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln – greift das Prinzip der Solidarität einer Gemeinschaft, in der das mit- und füreinander Dasein lebendige Wirklichkeit ist.
In unserem Gemeinwesen ist vieles möglich, ja erforderlich. Die Grenze ist erreicht, wo sich herausstellt, dass Menschen nicht im System etwas verändern möchten, sondern wo es um das Gemeinwesen geht, das grundsätzlich verändert werden soll. Hier ist Wachsamkeit und Einspruch geboten! Ich kann nur die eindringliche Warnung wiederholen: „Was das in der Konsequenz heißt, mag einem klarwerden, wenn man sich einen Augenblick lang den Faschismus mit Facebook vorstellt…“
Nicht verhandelbar sind darum universellen Menschenrechten und die Menschenwürde. Die so genannten Verteidiger des ‚Abendlandes‘ täten gut daran, mitzuwirken, dass die Grundpfeiler des Abendlandes (wieder) stärker in Geltung und Beachtung kämen in unserer Gesellschaft und darüber hinaus: Die griechische Philosophie, das Recht, das auf dem römischen Recht aufruht und vor allem der jüdisch-christliche Glaube mit seinen Implikationen, von denen ich nur die Menschenrechte und die Förderung des Familienlebens nenne, weil dort die Grundlagen für rechtes Tun und Denken in jedem menschlichen Gemeinwesen erlernt werden.
Abschließend möchte ich meine persönliche Betrachtung mit einem Auszug aus der Präambel unseres Grundgesetzes. In ihr ist all das grundgelegt, was zugleich Anlass zu Dank und Freude und gleichzeitig Herausforderung, ja Mahnung ist. Denn an diesem Tag gedenken wir,
„im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen. (Präambel GG)
- Thilo Sarrazin „Deutschland schafft sich ab“, München 2010, 10. Auflage ↩︎
- Henryk M. Broder lese: „Hurra, wir kapitulieren“, München 2007 ↩︎
- Harald Welzer „Wir sind die Mehrheit – Für eine Offene Gesellschaft, Frankfurt a. Main 2017, S. 47 f ↩︎
- Harald Welzer „Wir sind die Mehrheit – Für eine Offene Gesellschaft, Frankfurt a. Main 2017, S. 48 ↩︎
- Harald Welzer „Selbst denken“ – Eine Anleitung zum Widerstand, Frankfurt a. Main 2022 (5.Auflage), S. 28 f ↩︎